Draußen
Kartoffeln, Rapsöl, Liebe: Ein Leben für Reibekuchen
Der beste Platz ist ja bekanntlich „an der Theke“. Und die besten Geschichten beginnen auch zuweilen hier. Diesmal in den Siebzigern Jahren. In einer Amelsbürener Dorfkneipe. Claudia Wesseln-Ternirsens Vater Walter stand wie so oft hier mit seinem Kumpel, dem Schausteller und „Reibekuchenmann“ Klaus Genius, zusammen. Man tauschte sich aus, beriet sich, plauderte übers Leben. „Ich hab Not am Mann“, klagte Klaus Genius, der sein Reibekuchenbusiness 1955 gestartet hatte und von Kirmes zu Kirmes tourte. „Hätte Deine Gisela nicht Lust, bei mir am Stand auszuhelfen?“. Bähm. Seitdem bestimmten Kartoffeln, Paniermehl, Eier, Salz und Öl das Leben der Großfamilie Ternirsen.
Denn Gisela hatte Lust. Sie sprang bei Genius ein, wurde unentbehrlich, übernahm nach Klaus Genius’ Tod in den Neunziger Jahren das Unternehmen und hielt es in Ehren. Bis ins Detail. Tochter Claudia, heutige Inhaberin von Reibekuchen Genius, startete an ihrem 16. Geburtstag „an der Pfanne“. Als Auszubildende zur Fachverkäuferin „Parfümerie“ (ein Schelm, wer jetzt nicht auch an Reibekuchenduft denkt) im ehemaligen Hiltruper Kaufhaus Burgholz stieg sie parallel ins Markt- und Kirmesgeschäft ein. Urlaubstage als Azubi? Wurden für die Weihnachtsmarktzeit aufgespart. Reibekuchenstand „in Not“? Claudias Ausbilder legten ihre Schichten im Kaufhaus sogar so, dass die junge Frau ihrer „Zweitleidenschaft“ nachkommen und bei Genius aushelfen konnte.
Sie liebte das geschäftige Treiben an der Fettpfanne einfach, das Reiben der frischen Kartoffeln, die Kunden mit Appetit, das gute Produkt und vor allem das herzerfrischende Team „im Wagen“. Immer mehr schlug ihr Herz im Kartoffelpuffertakt, sodass sie mit 22 Jahren voll auf Reibekuchen setzte. Also fast.
Denn als Zweitjob heuerte sie in den münsterschen Bädern als Badewärterin an. Wann immer sie nicht Reibekuchen buk, stand sie am Beckenrand. Und als 1990 Tochter Melanie und 1993 Sohn Jannik geboren wurden, stellte sich ein Dreiklang ein: Kinder, Bad, Reibekuchen. Bad, Reibekuchen, Kinder. Und so weiter. „Schön war das“, erinnert sich Claudia Wesseln-Ternirsen – vor allem liebte sie die Touren über Land zu Einsatzorten auf Dorffesten und Kirmesplätzen. „Mit meiner Freundin und Kollegin Susi bekam ich dann einen Zettel mit einer Adresse in die Hand gedrückt. ‚Da müsst Ihr hin!’.“ Ohne Navi und fröhlich plaudernd juckelten die beiden jungen Frauen dann zu ihrer Reibekuchen-Schicht, die oft bis in die späte Nacht ging. Ein Genuss, nicht nur für die Leckermäuler am Zielort.
Wenn die Klappe des Marktwagens sich öffnet, beginnt für Claudia und ihr Team das „echte Leben“. „Das ist immer wieder ein einzigartiges Gefühl“, erzählt die gebürtige Amelsbürenerin, die als junge Frau mal ganz, ganz kurz der Liebe wegen nach München zog. Und der Reibekuchenfamilie wegen (noch heute sind Ehemann, Tochter, Sohn, Schwester, Nichte und im Hintergrund auch die Eltern im Einsatz) zurück in die Heimat zog.
Bevor sich aber an einem Markttag die Klappe öffnet, sind schon viele Handgriffe getan. Um fünf Uhr früh klingelt der Wecker (zugegeben, für Marktleute ist das eher spät). Um 6.10 Uhr heißt es: Jacke an, Susi abholen. Mit Brötchen und Zeitung im Gepäck geht es zu Mama und Papa, die für den Markttag die Promenadenmischung Tabby (dazu später mehr) in Obhut nehmen und bei denen der Marktwagen geparkt ist. Hier stehen auch die Kartoffeln schon bereit. Bauer Rogge hat sie fertig geschält angeliefert. Das macht er übrigens seit 1955 so. In einer Qualität, die das Reibekuchen-Geheimrezept bei Genius so verlässlich wie natürlich macht: Jede Kartoffel ist anders, jeder Reibekuchen ein Unikat. So ist es! Auch die Eier und das Paniermehl kommen übrigens seit Gründung 1955 von denselben Marktkollegen: Traditionen, die für Güte stehen.
Um 7 Uhr fährt das „schlachtschiffgraublaue“ Genius-Gefährt als einer der letzten Marktbeschicker auf den Domplatz auf: Die Reihenfolge ist heilig, damit sich die Marktwagen nicht in die Quere kommen. Und dann? Wird erstmal bei „Wolle und Moritz“ genüsslich gefrühstückt. Eine herrliche Auszeit bei den Kaffee-Kollegen, bevor es um 8.30 Uhr (und danach den lieben langen Tag immer nach Bedarf ganz frisch) ans Reiben geht. Die Maschine, die für die perfekten Kartoffelraspeln sorgt, ist Erstausstattung des Genius-Stands. Wie viele Tonnen Erdäpfel mag sie wohl schon gerieben haben seit 1955?
Wenn sich dann um 9 Uhr die Klappe hebt, stehen meist schon die ersten Stammgäste parat. „Drei Reibekuchen zum Mitnehmen, gern schön knusprig!“ „Fünf Reibekuchen gut verpackt und einen zum Direktessen, bitte!“ Die Kenner wissen, was schmeckt. In der Stoßzeit von 11.30 bis 14 Uhr sind die Warteschlangen oft lang. Geduldig und mit wässrigem Mund stehen die Reibekuchenliebhaber an und schmunzeln über die in Fleisch und Blut übergegangenen Handgriffe, wenn Claudia und ihr Team den Teig mit dem großen Löffel (der wie ein Augapfel gehütet wird, da er ebenfalls ein Erbstück von 1955 ist) ins Fett einlegen. Ob sie selbst noch Reibekuchen mögen? „Na klar“, lachen die einheitlich blau-weiß gestreift gewandeten fröhlichen Frauen aller Generationen, die heute Dienst schieben. „Wir wissen, was drin ist!“.
Nach der Schicht wird direkt auf dem Marktplatz gemeinsam geputzt. Zu fünft dauert es ein Dreiviertelstündchen bis alles fettfrei und tiptopp blitzt und blinkt. Dann steuert Claudia den Wagen zurück in die Halle auf dem Grundstück der Eltern und schnuppert schon Kaffee- und Kuchenduft. Auch das ist Tradition: „Wie war der Markttag?“ möchten Gisela und Walter Ternirsen wissen. Und zu erzählen gibt es immer etwas. Im Sommer 2018 etwa stand plötzlich Fernsehkoch Nelson Müller am Genius-Stand. Auf der Suche nach Inspirationen für sein Buch „Heimatliebe. Meine deutsche Küche“ hatte er sich zu den „Original-Reibekuchen“ durchgefragt. Ehrensache, dass Claudia und ihr Team es nicht bei Fotos beließen. Zack – stand Nelson Müller an der Fettpfanne, übte sich im Reibekuchen backen im großen Stil ... und kam dabei ganz schön ins Schwitzen. Ist eben auch ne Kunst, Kartoffeln, Öl und Hitze in Einklang zu bringen.
Berührend ist auch die Geschichte, wie Claudias Hund Tabby dafür sorgte, dass ein paar Dutzend Obdachlose nun schon mehrfach in den Genuss von Reibekuchen kamen. Vor gut einem Jahr übernahm sie nämlich einen (im wortwörtlichen Sinne „Promenadenmischung“-) Welpen aus dem Wurf eines münsterschen Obdachlosen, der mit der Vermehrung seines Hundeglücks sichtlich überfordert war. So entstand eine Verbindung, die nun auch durch den Magen geht. Denn als Corona das Marktgeschäft stoppte und Claudia die bereits gelieferten Kartoffeln nicht verwerfen wollte, dachte sie an Tabbys Herrchen und steuerte nach kurzer Absprache mit den Behörden kurzerhand den Anlaufpunkt für Wohnungslose am Hafengrenzweg an. Dort verwöhnte sie nun schon mehrfach die dankbaren Genießer von der Straße. Unkompliziert. Mit dem Herz am rechten Fleck. Und mit dem frischen Reibekuchenteig auf dem Löffel von 1955.