Architektur
Münster und die Welt gestalten
Sobald in der Architektur der Name Harald Deilmann fällt, blitzen sie auf, die Bilder seiner Bauten: Wohnhäuser und Verwaltungsgebäude, Kirchen und Kliniken, Theater und Museen, Schulen, ein Fernsehturm – wo anfangen, wo aufhören? „Ich will kein Spezialist sein“, sagte er einmal. Seine Devise, sich nicht festlegen zu wollen, veranschaulichen schon die rund 200 Projekte in Münster. Stadttheater, WestLotto, Volkswohlbund, LBS, Commerzbank und Allwetterzoo zählen neben Königspassage, Karstadt und Landgericht zu den bekanntesten. Für das Traditionslokal Stuhlmacher gestaltete Deilmann die Fassade, in Gievenbeck schuf er die Kirche St. Michael, auch St. Anna in Mecklenbeck stammt von ihm. „Er gehörte zu den Architekten, die sämtliche nur denkbare Bautypologien gebaut haben – vom Flugsimulator bis zum Zoo“, betont Experte Stefan Rethfeld die Vielseitigkeit.
Sein Büro leitete Harald Deilmann einst in bester Lage, am Prinzipalmarkt 13. Im selben Haus arbeitet Stefan Rethfeld heute als freiberuflicher Architekt und Journalist. 2009, ein Jahr nach Harald Deilmanns Tod, wählte er für ein Promotionsstipendium der Stiftung Deutscher Architekten dessen Leben und Werk als Thema, „um ihm auf die Spur zu kommen“, sagt Rethfeld. „Wie hat er experimentiert, wonach strebte er, wie hat er seine Projekte entworfen? Es ist, als ob man in den Maschinenraum eines kreativen Menschen klettert. Ich wollte entdecken, wie die Deilmann- Bauten entstanden sind, wieviel System in ihnen steckt und wieviel Schöpfung.“ Zu Lebzeiten hatte Deilmann seinen gewaltigen Büro-Nachlass an das Baukunstarchiv NRW in Dortmund gegeben – es waren mehr als 1700 Projekte. Ein einziges enthalte bis zu 50 Aktenordner, so Rethfeld, der das Material sichtete und Datenbanken erstellte. „Die Projekte sind in ihrem Ausmaß unterschiedlich. Mal handelt es sich um einen Schwimmbadanbau, mal um ein ganzes Krankenhaus.“ Seine Dissertation sei bislang nicht abgeschlossen, auch wegen ständig neuer Funde. „Insider wissen, was es heißt, ein so umfassendes Architektenleben zu behandeln.“ Manche hätten ihm geraten, sich auf eine Fragestellung zu konzentrieren. „Ich finde jedoch, damit wird man Deilmann nicht gerecht. Wichtige Themen seines OEuvres würden liegenbleiben.“
Kennengelernt hatte Stefan Rethfeld den Architekten bereits 1989. „Ich wollte Architektur studieren, bekam aber zunächst keinen Platz an der Uni. Also bot sich eine Ausbildung zum Bauzeichner an. Als 18-Jähriger schrieb ich Bewerbungen, auch an Deilmann. Er antwortete sofort.“ Rethfeld erinnert sich, wie er mit dessen Sekretärin telefonierte, sie einen Termin vereinbarten, Deilmann fragte: „Sonntag, 11 Uhr, bei mir zu Hause?“ Und wie sie sich dann trafen, Deilmann aus seinem Leben erzählte, sie sich drei Stunden unterhielten. Die Ausbildung muss eine gute Grundlage gewesen sein. Stefan Rethfeld wechselte zum Studium nach Berlin, hielt zurück in Münster Kontakt zu seinem alten Chef. „Mich faszinierte, wie er über ein halbes Jahrhundert lang die bauliche Entwicklung in Deutschland mit begleitet und hier und da auch mitgestaltet hat.“
Harald Deilmann, geboren am 30. August 1920 in Gladbeck, kam als Jugendlicher nach Münster. Mit seiner Familie war er, bedingt durch den Beruf des Vaters, häufig umgezogen. Nach dem Abitur musste er 1938 zum Arbeitsdienst, war gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Auslandseinsatz. Die Jahre 1943 bis 1945 verbrachte Harald Deilmann in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, hörte dort von Bombenangriffen in Deutschland.
„Während dieser Zeit sehnte er sich nach Münster, wo seine Freunde lebten“, sagt Stefan Rethfeld. In den USA nahm er an einer Lagerakademie teil, die ihm die Architektur nahebrachte. Von 1946 bis 1948 studierte er in Stuttgart, wurde wissenschaftlicher Assistent, arbeitete gemeinsam mit renommierten Architekten. Deilmanns erstes Projekt als Mitarbeiter in Münster: das im Krieg zerstörte bischöfliche Palais am Domplatz. Rethfeld kennt die Hintergründe. „Der Architekt Eberhard M. Kleffner, seinerzeit Leiter des Bischöflichen Bauamtes, engagierte den jungen Absolventen Deilmann und plante mit ihm den Wiederaufbau. Doch Deilmann erkannte, dass es nicht das war, was er wollte. Nicht Wiederaufbau, sondern Neuaufbau war da eher seine Herangehensweise. Wie kann ein künftiges Münster aussehen? Wie eine Architektur der Gegenwart?“ Ihn hätten Interpretationen, neue Raumfolgen und Konstruktionen interessiert.
Kurz darauf flossen seine Vorstellungen in ein Bauwerk, für das er mit den Kollegen Max von Hausen, Ortwin Rave und Werner Ruhnau protestiert hatte. Nachzulesen ist, dass sich das Quartett aus Männern Mitte 30 bei den Zuständigen der Stadt Münster gegen einen geplanten Theaterbau in historischem Stil aussprachen. Deilmann erklärte dazu: „Nachdem schon der Prinzipalmarkt im restaurativen Sinne wieder entstanden war, fanden wir, dass man das Theater in zeitgenössischer Architektur bauen sollte. Wir wollten uns absetzen von den vergangenen schrecklichen Ereignissen und als junge Generation etwas Neues schaffen.“ 1952 erlaubte die Stadtverwaltung die Einreichung alternativer Entwürfe. Gutachter waren von dem des frisch gegründeten Architektenteams (Deilmann, von Hausen, Rave, Ruhnau) so begeistert, dass sie diese Arbeit zur Ausführung empfahlen. Und auch die Stadtverwaltung war überzeugt. Zur Einweihung im Februar 1956 nannte die Presse das Haus – es war der erste Theater- Neubau in der jungen Bundesrepublik – einen „Donnerschlag“. Ein fulminanter Karrierestart, insbesondere für Harald Deilmann. Der trennte sich mit der Gründung seines eigenen Büros für Architektur und Städtebau von den anderen. Anlass soll die eher komplizierte Zusammenarbeit gewesen sein. Als das Theater eröffnet wurde, waren die vier seit Monaten kein Team mehr. „Verantwortung kann man nicht teilen“, wird Deilmann zitiert.
Im „Architekturführer Münster“ beleuchtet Stefan Rethfeld die herausragenden Bauwerke der Stadt, auf dem Buchcover ist das Theater in den Fünfzigerjahren abgebildet. Rethfeld erläutert Architektur-Anhängern regelmäßig vor Ort die Baugeschichten, und meint: „Wenn ich das Theater zeige, schäme ich mich für Münster.“ Der Umgang mit diesem Baudenkmal sei lieblos, es müsse dringend etwas unternommen werden. Vorbildlich sieht es hingegen in der Jessingstraße aus. Nahe des Kapuzinerklosters hatte Harald Deilmann mit Ehefrau Elsbeth und den drei Kindern ebenfalls 1956 ein selbst entworfenes Haus errichtet. Er vereinte Wohnen und Arbeiten, verwirklichte Ideen, die in ihrem Ursprung durch Schwarz-Weiß-Fotos dokumentiert wurden. Deilmann entwarf auch den Kamin im Wohnzimmer und die Gardinen vor den Fenstern. Im Bürotrakt zierten Modelle und Planzeichnungen aktueller Projekte die Wände. Ebenso Cartoons des New Yorker Karikaturisten Saul Steinberg, der das moderne Großstadtleben humoristisch interpretierte. Rethfeld: „Deilmann war selbst gerne als Zeichner unterwegs und fühlte sich ihm seelenverwandt.“ Was das Wohnhaus Deilmann in seinem Kern auszeichnete, ist bis heute erkennbar. Die neuen Eigentümer haben ihr denkmalgeschütztes Anwesen sanieren lassen, 2017 wurden sie dafür mit dem Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege geehrt.
Stefan Rethfeld sagt, es sei ihm ein Anliegen, die Architektur von Harald Deilmann sorgfältig zu bewahren: „Man muss überhaupt nicht jedes seiner Projekte mögen. Aber es gibt eine Reihe von guten, die es wert sind, sich mit ihnen zu beschäftigen.“ Alle Freiheiten habe er zum Beispiel bei der Gestaltung des früheren Zoo-Geländes an der Himmelreichallee gehabt, das zum Standort der WestLB, jetzt LBS, wurde. „Er konnte aus dem Vollen schöpfen“, schildert Rethfeld. „Von seinen Gedanken ist viel geblieben: Das vielfach gestufte, terrassierte Gebäude liegt auch heute noch lässig in der Parklandschaft und gleicht einer großen Skulptur, die von jeder Seite entdeckt werden will. Die freien Rasenflächen mit ihren Kunstwerken laden zu verschiedenen Blickpunkten ein. Mit seiner weißen Bänderung und den Fenstern und Treppen aus Cortenstahl wurde es zum unverwechselbaren Bauwerk – und zum Vorbild für weitere WestLB-Standorte.“ Entstanden war es in den Jahren 1967 bis 1975, nebenbei hatte Deilmanns Büro auch den Wettbewerb für den neuen Allwetterzoo an der Sentruper Straße gewonnen. Die Landesbank indes machte Deilmann zum Hausarchitekten, ließ ihn ihre Gebäude in Dortmund, Düsseldorf und Luxemburg bauen. In Frankfurt, London, Tokio und New York wurde ihm die Gestaltung der Innenräume anvertraut. Künstler band Harald Deilmann laufend in seine Aufträge ein, für die WestLB waren es unter anderem Henry Moore und Heinz Mack. Mit Norbert Kricke, welcher mit der „Raum-Zeit-Plastik“ am Theater Münster für Aufsehen sorgte, verband ihn eine tiefe Freundschaft. Konzepte entwarf Deilmann auch mit Zeitgenossen wie Victor Bonato, Adolf Luther und Georg Karl Pfahler. Nach Deilmanns Treffen mit Andy Warhol hielt die Pop-Art-Ikone das Porträt des Architekten in einem Bild fest. Der Siebdruck, ein Unikat, ist inzwischen Teil der gemeinnützigen Deilmann Stiftung von Sohn Andreas, der die private Kunstsammlung der Familie dauerhaft in einem Museum am Hafen in Münster präsentieren will.
Niederlassungen seines Büros führte Harald Deilmann zeitweise in Stuttgart, Düsseldorf, Dortmund und Potsdam. In der NRWLandeshauptstadt hat er einige der höchsten Gebäude verantwortet. 1978 wurde das LVA-Hauptgebäude an der Königsallee eröffnet, 1982 ging der von ihm entworfene Rheinturm, heute ein Wahrzeichen von Düsseldorf, in Betrieb. Als Hochschullehrer an der Universität Dortmund wurde er 1985 emeritiert. Seine freiberuflichen Tätigkeiten setzte er fort, etwa mit dem Aalto-Theater Essen oder dem Neuen Nationaltheater Tokio. 50 Jahre existierte sein Büro, agiert hat er von Münster aus. Rethfeld: „Deilmann hat das internationale Architekturgeschehen und die Strömungen der Zeit eng verfolgt. Und von Münster aus durch viele Projekte, besonders in Westfalen und im Rheinland, bundesweit Maßstäbe gesetzt. Das ist sein Verdienst.“
„Seine Bauten sind ein starkes Plädoyer für eine ‚Lebendige Architektur‘. Für ein Bauen, das den Kontext berücksichtigt und räumlich, funktional und konstruktiv versucht, stets neue Wege zu gehen. Im Werk sind verschiedene Phasen zu finden. Von ersten einfachen Backstein-Bauten über kühne Beton-Gebäude bis hin zu flexiblen Großstrukturen. Vielfach können wir heute von diesen Entwürfen lernen. Einen Deilmann-Stil gab es nicht, wohl aber eine Haltung: neugierig bleiben.“ Harald Deilmann starb am 1. Januar 2008 im Alter von 87 Jahren in Münster. „Er war ein Vollblut- Architekt“, sagt Stefan Rethfeld, „und saß deshalb bis zum Schluss am Schreibtisch.“ So hinterließ Deilmann auch Entwürfe, die nie realisiert worden sind. Sein letzter großer Wettbewerbsgewinn im Jahr 2000 stellte die Umgestaltung des Stadtviertels San Lorenzo in Rom dar. Unweit seiner Grabstätte auf dem Zentralfriedhof Münster ragt Richtung Himmel die LBS – strahlend weiß, wie von ihm vor einem halben Jahrhundert erdacht.