Ziegenkäse von Scellebelle Ziegenkäse von Scellebelle
Foto: Cornelia Höchstetter

Nachhaltig & Regional

Weißes Gold

Die Damen meckern leise vor sich hin. Sie mögen es nicht, wenn die Chefin mitten am Nachmittag am Tisch im Hof sitzt und dem Besuch über Käse erzählt. Viel Zeit hat sie eh nicht. Kaum rückt Sabine Jürß den Stuhl zurecht, klingelt das Mobiltelefon. Sie hört zu, redet, überlegt, lacht und organisiert schnell um – es geht um landwirtschaftliche Flächen, um Grünland, um das Futter der im Hintergrund meckernden Ziegendamen. Umständliche Agrarbürokratie. „Das gehört dazu“, zuckt sie mit den Schultern und strahlt gleich wieder über das ganze Gesicht.

ZIEGEN VOR DEN STADTTOREN

Im Stall ist es ruhig geworden, die Ziegen kauen am Kleegras, das in der Raufe liegt. Sabine Jürß, 62, hält seit 27 Jahren Ziegen und produziert per Hand Bio-Rohmilchziegenkäse. Aktuell besitzt sie 58 Milchziegen, 33 Lämmer und 18 Jungziegen, die in einem luftigen Stall mit Auslauf bei Handorf leben. Zweimal täglich melkt Sabine Jürß insgesamt 230 Liter Ziegenmilch. Was bei Münster-Handorf verkäst wird, kaufen die Münsteranerinnen und Münsteraner seit 2013 am Käsestand Scellebelle am Wochen- und am Ökomarkt am Dom in der Stadt – keine acht Kilometer von der Produktionsstätte entfernt.

„Meinen Marktstand sehe ich als Bühne nicht nur für meinen Ziegenkäse, sondern auch für hochwertigen Kuhmilchkäse von meinen Kollegen, deutschlandweit und international, mit denen ich aus Überzeugung seit Jahren zusammenarbeite.“ Sie tauschen ihre Käse untereinander aus, so dass jeder an seinem Marktstand Käse hat, den es normalerweise nur vor Ort in Hofläden oder an Marktständen gibt.

Sabine Jürß Foto: Cornelia Höchstetter
Ziegenzüchterin Sabine Jürß
Zicklein von Scellebelle Foto: Cornelia Höchstetter
Unwiderstehlicher Blick: Das Zicklein ist wenige Wochen alt und heißt Ovomaltine.

MARKTTAGE BEGINNEN IN DER NACHT

Deshalb klingelt mittwochs und samstags der Wecker schon nachts um drei Uhr. In der Dunkelheit fährt Sabine Jürß zum Stall, um 60 Ziegen zu melken. Gut, dass die Ziegendamen kooperativ sind, denn gegen halb sechs muss die Melkchefin mit ihren Mitarbeitern den Marktstand aufbauen. Kunden treffen, beraten, Rezepte austauschen, von ihrer Arbeit erzählen – das ist Sabine Jürß wichtig. „Die Tiere, der Markt und die Käserei – das ist meine Dreifaltigkeit, die mir große Abwechslung bringt“, sagt sie. „Ich genieße die Wertschätzung, die wir am Markt bekommen.“

BLICK NACH FRANKREICH

Scellebelle – das „Sc“ spricht man weich und im Rachen aus. „Ich wollte unbedingt einen schönen Namen für meinen Käse haben“, erklärt die Ziegenzüchterin. Sie erinnerte sich an die Verfilmung eines belgischen Romans „Der Flachsacker“, in dem die Magd Scellebelle hieß. Von Belgien ist es nicht weit nach Frankreich. Seit sie ein junges Mädchen war, liebt sie das Land und das „Savoir vivre“, gerade wenn es um Genuss geht. Deshalb basiert ihr gereifter Weichkäse „Scellebelle-lactique“ auf einem französischen Rezept. Ihre Käsestücke, die teils französische Namen haben, gibt es nicht nur auf dem Markt, sondern bundesweit bei ausgesuchten Gastronomen und in Feinschmeckertheken, sogar auf der Insel Sylt. 

KREIDIG UND CREMIG AUF DER ZUNGE

Sabine Jürß stellt auf den Tisch im Hof eine Käseplatte zum Probieren: weiße runde Stücke, eine cremegelbliche Tarte, eine Pyramide mit rosa Pfeffer. Ziegenkäse pur oder mit einem Stückchen Brot. „Ziegenkäse ist auf der Zunge leicht kreidig, aber gleichzeitig cremig“, Sabine Jürß probiert selbst ein Stück und erklärt die Cremigkeit des Ziegenkäses: „Wenn man sich bildlich vorstellt, dass das Molekül in Kuhmilch im Verhältnis so groß ist wie ein Medizinball, ist das Molekül in Ziegenmilch klein wie ein Golfball.“ Daher würden auch laktoseintolerante Menschen Ziegenkäse zu 90 Prozent gut vertragen. „Ich mache Ziegenkäse wie früher“, erklärt die Käsefachfrau. Ziegenmilch toleriert weder mechanische noch thermische Gewalt. Deshalb wird nichts gepumpt, nichts erhitzt, nicht gekühlt, sondern nach dem Melken direkt in den Vakuum-Eimer per Hand in die Käserei getragen. 

Sabine Jürß mit ihrem Pferd Foto: Cornelia Höchstetter
Geerbte Leidenschaft – schon Sabine Jürß' Vater hat Pferde gezüchtet. Am Ziegenstall stehen ihre Connemara-Ponys.

DAS PFERDEMÄDCHEN AUS WIESBADEN

Dass Sabine Jürß eine Anpackerin ist, kommt nicht von ungefähr – auch wenn sie in der hessischen Hauptstadt Wiesbaden aufgewachsen ist. „Ich bin schon als Mädchen geritten“, erzählt sie. „Als Schülerin bekam ich von den Eltern für gute Noten eine Reitstunde – den Rest habe ich mir mit Stallarbeit dazuverdient“, erinnert sich Sabine Jürß. Die Ferien hat sie bei den Großeltern in Schleswig-Holstein verbracht, erst auf Ponyhöfen, später als Praktikantin auf Milchviehbetrieben. Dort hat sie Melken gelernt, die Landjugend kennengelernt und bei den Festen auf Tischen getanzt. „Das war vielleicht ein Kontrast zu meiner Zeit in Wiesbaden“, meint sie und war beeindruckt von Verlässlichkeit und Zusammenhalt auf dem Land. Dennoch hat sie erst studiert – so kam sie nach Münster. Publizistik, Geschichte und das geliebte Französisch. „Sehr theoretisch und zu viele Frauen in dunkelblauen Röckchen.“ Sabine Jürß wollte es etwas handfester. Ihr Mann Martin, den sie in Münster kennengelernt hatte, auch. So zogen beide nach Niedersachsen. Sabine Jürß studierte Agrarwissenschaften und schloss als Agraringenieurin ab.

Sabine Jürß mit Melk-Utensilien Foto: Cornelia Höchstetter
Sabine Jürß stellt im Vorraum der Käserei die Melk-Utensilien zusammen.
Milchziege Foto: Cornelia Höchstetter
Die Milchziegen meckern, wenn zu spät gemolken wird.

EINE EIGENE ZIEGENHERDE

1987 kaufte Sabine Jürß ihre ersten eigenen Ziegen und gründete Scellebelle noch in Niedersachsen. „Im ersten Jahr habe ich jede Menge über Ziegen gelernt, im zweiten Jahr über Milch und im dritten Jahr über Vermarktung“, erinnert sich die Käse-Macherin. Längst ist sie erfahrene Herdenmanagerin. Geht man in den Stall, schauen einen die Ziegen mit ihren unglaublich großen Augen an. Neugierig, gelassen, souverän – so wirken die erwachsenen Tiere. Viele haben imposante Hörner, die an Urviecher erinnern. Sabine Jürß züchtet eine Kreuzung aus der Bunten Deutschen Edelziege und der französischen Landziegenrasse Poitevine – „die haben ein besonders wertvolles Kasein, das sind die Eiweißgruppen, die den Käse bilden“, erklärt die Käsefachfrau.

Richtiggehend schick sehen die Ziegendamen aus. Elegant, trotz tiefhängender voller Euter – es dauert nicht mehr lange zum abendlichen Melken. „Ich konzentriere mich auf eine Betriebsleiterinnen-Zucht“, erklärt Sabine Jürß. Wichtig sind ihr die „Euteraufhängung“, ein gut gelagertes Becken, ein stabiles Fundament. Kurz – so wie ein Hochleistungsradrennfahrer einen perfekten Körper als ideale Voraussetzung haben kann, so ist es bei Hochleistungsmilchziegen auch.

Jede Ziege hat einen Namen. Die Zicklein, die in diesem Jahr geboren sind, fangen laut Zuchtbuchordnung mit dem Buchstaben „O“ an. Ovomaltine, Ojeoje, Okidoki und Olive – sie klettern wie die Gamsböcke auf Futtereimer und Holzbalken. Allerliebst sind sie mit Knopfaugen und knubbeligem Hornansatz am Kopf. Das ist die künftige Milchziegengeneration. Sie sehen aber aus, als kämen sie direkt aus der Stofftierabteilung. Solche Gedanken hat Sabine Jürß natürlich nicht – ihr ist die Gesundheit und Zufriedenheit der Tiere wichtig.

Auswahl an Scellebelle Käse Foto: Cornelia Höchstetter
Das Jürß'sche Motto: „Ich möchte die Milch so naturbelassen wie möglich zu Käse machen.“

HOCHTRAGENDE ZIEGEN: URLAUBSZEIT

Weil Sabine Jürß jeden Tag füttern, melken und käsen muss, hätte sie im Jahresverlauf nie Zeit zum Durchschnaufen und für Erholung. Deshalb lässt sie ihre Ziegenmütter so vom Bock belegen, dass die Hochträchtigkeit in den Januar und Februar fällt. Dann ist Melkpause und etwas Zeit. „Letztes Jahr war ich kurz vor dem Lockdown noch im belgischen Gent, habe Museen und die Höfe von Kollegen besucht“, so verbindet sie Kunst, Kultur, Genuss und Geschäft.

Wenn die Geburten anstehen, geht es wieder rund in den Ställen: zehn bis zwölf Zicklein kommen auf die Welt. Nach zwei Tagen werden die Zicklein von der Mutter abgesetzt. Die Milchproduktion muss weiter gehen. „Die meisten Mutterziegen sind da ziemlich ungerührt“, beobachtet Sabine Jürß. Und die Zicklein sind zusammen in einer eigenen Laufbox. Sie hopsen und spielen miteinander und saufen die Milch aus den Eimern, an denen Gummizitzen stecken.

DER SCHÖNSTE BERUF DER WELT

Zum Schluss unserer Unterhaltung wird Sabine Jürß noch philosophisch: „Es gibt für jeden Menschen etwas, für das er lebt. Ich trenne Arbeit und Leben nicht – das ist ja das Ur-landwirtschaftliche daran“, sagt sie. „Wir haben nur eine Chance, das eine Leben und müssen daraus doch was machen. Ich bin froh und dankbar, dass ich diesen Beruf gefunden habe.“ Und dann muss sie vom Tisch aufstehen. Es ist Melkzeit. Die Ziegen meckern schon wieder. Es geht um ein gutes Tauschgeschäft: Futter gegen weißes Gold.

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