Menschen
Die fantastische Welt der Lisa Sandner
erschienen im MÜNSTER! Magazin No. 125 (Juni 2023)
Als wir uns nach mehreren Anläufen endlich in Münster Wienburg bei Lisa Sandner zu hause treffen – je drei kranke Kinder haben zu erheblichen Verzögerungen geführt – tritt mir eine aufgeweckte Person mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht entgegen. Mit einem Kaffee in der Hand klettern wir die schmale Dachbodenleiter hinauf und betreten ihr Atelier: einen geräumigen, lichthellen Raum mit mehreren Arbeitsplätzen und vielen Regalen an der Wand. Vereinzelt stehen und hängen kleine Arbeiten, und ich bewundere die Sammlung von verschiedensten Materialien, Bildern und interessanten Objekten.


IN DER WELT ZUHAUSE
Lisa Sandner ist schon von klein auf viel unterwegs gewesen. Als ihre Eltern Ende der 1980er Jahre nach West-Afrika ausgewandert sind, haben sie unter anderem an der Elfenbeinküste, in Sambia und in Kenia gelebt. In dieser Zeit, als es weit und breit keinen Künstler oder Bastelbedarf gab, und man sich mit dem begnügen musste, was man auf der Straße fand, hat Lisa Sandner sich die Kunst angeeignet, aus Nichts oder zumindest aus sehr wenig etwas zu schaffen. „Das hat ungemein viel Kreativität in mir freigesetzt und ich versuche, mir diese Mentalität zu erhalten.“ Die weiterführende Schule beendete sie zunächst in den USA und anschließend in Deutschland, zum Kunstgeschichtsstudium ging es dann nach Paris und London. Weitere Stationen waren Berlin, München und Brooklyn, bevor sie 2017 schließlich in Münster gelandet ist. Wo sie jetzt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem schönen kleinen Haus mit Garten wohnt. Lisa Sandner lacht: „Zumindest für den Moment bin ich angekommen!“
HOMMAGE AN DIE WUNDERKAMMER
Kabinett L.F.S., das steht für Lisa Franziska Sandner und ist als Hommage an die frühneuzeitlichen Wunderkammern, auch Kunst oder Kuriositätenkabinette genannt, gedacht: Hier wurde die Welt nach bestimmten Prinzipien sortiert und im Kleinen dargestellt. Besonders beliebt waren Sammlungen von Raritäten und Kuriositäten. Neben der Faszination an Kuriosem sind es die kleinen Dinge des Alltags, die Lisa Sandner begeistern. Etwa ein Stück Verpackungsmaterial, der Rest einer Brötchentüte oder ausgelaufene Farbe auf Papier. All diese Dinge fließen in ihre Arbeit ein und inspirieren sie zu neuen Zeichnungen und Collagen, wie etwa die karnevalesk verkleideten, feinen Papierfiguren, die sich aus unterschiedlichsten Materialien zusammensetzen. Die Sammlung des Kabinett L.F.S. ist beachtlich, ständig kommen neue Materialien hinzu, immer wieder wechseln Arbeiten den Besitzer und es entwickeln sich neue Bilder und Objekte.


MEIST ENTSTEHEN 1.000 SACHEN GLEICHZEITIG
Lisa Sandner arbeitet an vielen Dingen parallel. „Ich liebe das Gefühl des Schaffens. Und oft befruchten sich die einzelnen Arbeiten gegenseitig.“ Aus Papier und Stoff entstehen witzige Collagen, scheren schnittartige Darstellungen von Figuren oder einfache Landschaftsbilder. Mit Nadel und Faden werden Augen und Münder oder menschliche und tierische Antlitze gestaltet, die mit dickem Stoff unterlegt fast plastisch wirken. Dabei ist ihr künstlerisches Schaffen ganz klar zyklisch orientiert. Während sich im Herbst und Winter viel ums Nähen und Sticken dreht, sind im Frühjahr und Sommer vermehrt Ton und Papierarbeiten angesagt. Hauptsächlich Teller, vereinzelt stehen aber auch Tassen und andere Stücke wie zum Beispiel Tierkerzenhalter auf dem Programm. Die verspielten Keramiken werden mit feinen Tier und Porträtzeichnungen versehen. Vor allem die prunkvollen Kleider und ausladenden Krägen von Königin Elisabeth I. haben es ihr angetan, genauso wie alle anderen opulent gekleideten Figuren seit der Zeit der Renaissance. Gezeichnet wird eigentlich permanent. Mit Vorliebe Porträts historischer Persönlichkeiten. Oder Tiere. „Manchmal bringe ich kleine Rätsel zu Papier, deren Herkunft ich selbst nicht kenne.“ Sie entstehen mehr oder weniger zufällig. Überhaupt spielt der Zufall eine große Rolle. Etwa die plötzliche Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Detail oder ein spontaner Kommentar der Kinder. „Der Prozess als solcher interessiert mich meist mehr als ein konkretes Vorhaben.“ Ihre Kunst sei aber weniger für die Wände gedacht, findet Lisa Sandner. „Viel mehr sind es kleine ,Stehrümchen‘, wie man so schön sagt“ erklärt sie: „Schöne Dinge, die vielleicht glücklich machen.“ Als Autorin dieser Zeilen kann ich persönlich mir die feinsinnigen Zeichnungen und Collagen wie etwa die beiden springenden Löwen in rot und grün oder die farbenfrohen Zirkusbilder aber durchaus als Wandbilder vorstellen.


VERSPIELTER CHARAKTER
Da die drei Kinder noch klein sind, nimmt das Familienleben viel Raum ein. „Das Gute daran: Ich darf auch spielen! Und das fühlt sich im Hinblick auf meine künstlerische Freiheit gerade richtig an.“ Fragen wie „Mama, warum zeichnest Du nicht mal einen Drachen?“, aber auch die kindliche Sicht auf die Welt und das unbeschwerte Herumexperimentieren inspirieren Lisa Sandner und setzen immer wieder neue Impulse. So entstand etwa das flächige Bildnis einer jungen Frau im lieblichen Sommerkleid mit dem freundlichen grünen Drachen. „Grundsätzlich fühle ich mich der englischen Ästhetik näher, dem speziellen Sinn für Humor und der witzigen und leichten Art, die mir freier und unbeschwerter er scheint.“ Hier haben sicherlich die Londoner Jahre ihre Spuren hinterlassen. Einen Bezug sieht sie außerdem zur sogenannten Folk Art, wie sie in vielen anderen Ländern verbreitet ist. Gerade handwerklich verzierte Alltagsgegenstände wie etwa eine vietnamesische Stickerei oder ein handgetöpferter Teller aus Rumänien können der Anfang einer ganzen Ideenreise sein.


FLOHMÄRKTE STEHEN GANZ OBEN AUF DER BELIEBTHEITSSKALA
Noch mehr Inspiration findet Lisa Sandner auf Flohmärkten, wo es jede Menge alte Sachen und außer gewöhnliche Objekte gibt. Dort wecken besondere Dinge wie über hundert Jahre alte Nadelsets mit zarten Glitzerzeichnungen auf der Verpackung ihr Interesse, oder alte Fotoaufnahmen, die sie kurzerhand übermalt und sich damit persönlich aneignet. Mit unter fallen ihr sogar alte Stoffreste oder Stoffe aus fernen Ländern in die Hände, die sie in ihren Stoffbildern verarbeitet. Aber auch der münstersche Wochenmarkt mit seiner schier unendlichen Farben und Formenvielfalt und dem quirligen Treiben gehört zu ihren Lieblingsorten.

DAS TOR NACH DRAUSSEN
Über Instagram kommuniziert Lisa Sandner mit der Welt. Mit regelmäßigen Posts über ihre Arbeit hält sie die FollowerInnen auf dem Laufenden und pflegt Bekanntschaften, vor allem auch aus dem Ausland, die immer wieder Kunstwerke von ihr erwerben. Seit einem Jahr wird sie außerdem von der englischen Galerie The Shop Flor Project vertreten. Und im Rotkehlchen, einer Feinwarenhandlung mit Restaurant an der Wasserstraße, hat sie nicht nur die Theke bemalt: Neben handgezeichneten Karten werden hier auch kleinere Arbeiten wie zum Beispiel ein Satz Collagen oder andere schöne Dinge angeboten. An sonsten arbeitet Lisa Sandner eher zurückgezogen in ihrem Atelier unterm Dach. Während unten das Familienleben tobt, ist es oben ungemein still. Als würde der Ort eine Art Eigenleben innerhalb des Familiendomizils führen. Nicht viele erhalten Zugang hier hinauf. Es ist ein sehr privater Einblick in ihr künstlerisches Schaffen, den uns Lisa Sandner für diesen Beitrag im MÜNSTER! Magazin gewährt hat. Danke!
