Kunst & Kultur
Wie im Film
Dort, wo sich der Vorhang zu einer anderen Welt öffnete, steht heute ein Supermarkt. Schwarz-Weiß-Fotos zeugen von der Gaststätte „Neuer Krug“, gegründet 1947 als zweites Kino der Stadt – den Saal des Restaurants hatte man zugunsten eines Lichtspieltheaters aufgegeben. Vor über 50 Jahren führte Heiner Pier das Haus an der Weseler Straße weiter und etablierte es als Cinema. Nun feiert das Team auch die Tatkraft von Kino-Pionier Pier, der einst die Film-Vielfalt nach Münster brachte.
Thomas Behm durchforstete anlässlich des Geburtstages 2018 sämtliche Archive. Er sichtete jahrzehntealte Filmzeitschriften und Artikel der „Westfälischen Nachrichten“, erstellte eine Chronik. Mit seinem Lebensgefährten Jens Schneiderheinze leitet Behm das Cinema inklusive Kurbelkiste seit 1997, im Jahr darauf kam das Café Garbo hinzu. „Wir wollen, dass die Besucher sich verstanden fühlen“, erläutert er die Programmauswahl. „Gleichzeitig sollen die Filme natürlich unterhalten.“ Das Cinema sei „eine Spielstelle für den gesellschaftlich, politisch, künstlerisch und historisch relevanten Film“. Damit besetzt Münsters kleinstes Kino, nach dem Umzug 1980 an der Warendorfer Straße beheimatet, eine Nische.
„Alle begreifen das Cinema als Ort für einen offenen Diskurs.“ Thomas Behm
Klingelnde Kinokassen im Filmtheater-Betrieb
Die Recherchen offenbaren, wie Kino Ende der Sechzigerjahre funktionierte. Drei Filme zeigte das Cinema, gerade mal 15 die Einzelhäuser der Umgebung. Mittlerweile laufen in Münster jede Woche mehr als 50 Filme auf 15 Leinwänden. Die Bandbreite gelingt, weil sich das Cinema den Münsterschen Filmtheater-Betrieben und somit Schloßtheater und Cineplex anschloss. Neustarts werden je nach Genre zugeordnet und bleiben doch in der Familie. Für die Protagonisten ist es die sinnvollste Form der Konkurrenz. „Wir sprechen uns ab, wichtige Entscheidungen treffen wir einvernehmlich“, sagt Thomas Behm. Das sei nur vernünftig angesichts des Erfolgs anderer Angebote. War es zunächst das Fernsehen mit den Privatsendern, nahmen Videotheken den Kinos die Besucher weg, inzwischen abgelöst von den endlosen Möglichkeiten des Internets. Die Entwicklung lässt sich auch anhand alter Zahlen ausdrücken: Obwohl ein deutlich kleineres Programm zur Verfügung stand, verkaufte das Cinema in seinen besten Jahren bis zu 120.000 Kinokarten, im Vergleich waren es 2017 80.000 Stück.
Wie alles begann...
Bevor sie das traditionsreiche Kino übernahmen, gründeten Behm und Schneiderheinze das schwul-lesbische Filmförderprojekt „Rosa Linse“, dem die Reihe „Bunte Farben“ folgte: Im heutigen „Cuba Nova“ an der Achtermannstraße präsentierten sie mit Partnern wie der Eine-Welt-Gruppe und der Frauenforschungsstelle eben solche Filme, die sonst nirgendwo liefen. „Wir kommen aus der sozialen Bewegung. Uns ist wichtig, Identitäten zu schaffen“, sagt Behm. Und nennt etwa Filme, die psychische Probleme thematisieren. „Als zum Beispiel ein Film über Schizophrenie lief, fühlten sich Angehörige von Betroffenen endlich verstanden.“ Meistens handelt es sich um Werke abseits des Mainstreams. Blockbuster passen nicht ins Cinema. Thomas Behm weiß, woran das liegt: „Hollywood reproduziert Familienbilder und Klischees, und das selten gegen den Strich.“ Das Cinema interessiere sich eher für fremde Lebensweisen, aufbereitet als ein niedrigschwelliges Angebot für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Treue Besucher im Cinema
Der Mut zu Experimenten hat sich bewährt. „Alle begreifen das Cinema als Ort für einen offenen Diskurs“, so Behm. Das Team kooperiert mit verschiedensten Partnern, der Bischof von Münster gehört ebenso zu den Gästen wie Gruppen der Antifa. Produzenten, Regisseure und Schauspieler bleiben nach dem Abspann ihrer Filme für lange Gespräche. Dem hohen Stellenwert ist wohl zu verdanken, dass eine Krise 2004 nur kurz anhielt. Behm und Schneiderheinze hatten die schwierige finanzielle Lage öffentlich besprochen. „Multiplex-Kinos haben gezeigt, wie groß Leinwände, wie gut der Ton und die Sichtverhältnisse sein können. Da konnten wir nicht mithalten.“ Die Reaktionen überraschten. Münsteraner bekundeten ihre Solidarität – in Gedanken an frühe Kinoerlebnisse, Klassiker wie die „Langen Nächte“ oder Besuche, bei denen Schmalzbrot gereicht wurde. Innerhalb weniger Wochen sammelten Behm und Schneiderheinze ausreichend Spenden. Das Cinema war gerettet, so emotional wie im Film.
Die Cinema-Säle
268 Plätze verteilen sich auf die Räume eins (158) und zwei (58) sowie ein erst eigenständiges Kino, ebenfalls 1968 von Heiner Pier eröffnet: die Kurbelkiste (52). Aus Nostalgie bleibt sie erhalten, und auch vergilbte Bilder der Marx Brothers hängen nach wie vor an den Wänden. Pier war großer Anhänger der amerikanischen Komiker, taufte die Cinema-Säle zeitweilig sogar auf die Namen der Mitglieder Chico, Harpo und Groucho. Da hatte er aufwändige Bauauflagen für die Einrichtung überstanden, mit Anwohnern über Lärmschutz verhandelt und für eine Million D-Mark aus einem ehemaligen Beerdigungsinstitut an der Warendorfer Straße das neue Cinema gemacht. Heiner Pier war danach unter anderem Chef des „Metropolis“ am Bahnhof und als Berater für Kino-Neubauten tätig. Als er 2011 starb, würdigte das Cinema-Team seine „Liebe zum Kino“ und schrieb: „Wir versuchen seine Ideen in Erinnerung zu halten.“ Die Traueranzeige zierte eine Filmrolle und ein Zitat von Groucho Marx.
Die Zukunft des Programmkinos
Aktuell existieren in Deutschland rund 1670 Kinos mit 4800 Sälen. Das Cinema gehört zu den besten, wird auf Landes- und Bundesebene hochkarätig ausgezeichnet. Dennoch sagt Thomas Behm: „Wir sind längst nicht so weit, wie wir sein wollen.“ Ihm seien die Vorteile des Fernsehens zu Hause bewusst. Ein Kino wie ihres könne nur durch Veränderung zukunftsfähig sein. „Also müssen wir mehr Kontaktpunkte schaffen.“ Demnächst will er in der Reihe „in vino cinemas“ den Wein statt wie bisher zu Beginn erst nach der Vorstellung ausschenken. „Damit die Leute über den Film reden und sich kennenlernen.“ Im „neben*an“, das wegen der unmittelbaren Lage gleich gegenüber so heißt, ist ein Raum zum Zusammenkommen entstanden, ein „Laden für alle Fälle“. Mit Sitzgelegenheiten und Küchenzeile, genutzt als Kinderwagen-Café, Stadtteilbüro oder Treffpunkt für Stammtische und Veranstaltungen. Hier laufen manchmal Kurzfilme, und im Anschluss wird diskutiert.
Fast 50 Menschen arbeiten im Cinema. Der Erfolg basiert auf einem von Leidenschaft geprägten Miteinander. Und noch etwas ist laut Thomas Behm bedeutend: die Definition des Begriffs Programmkino. Anfangs war damit die simple Übersicht des Monats gemeint. Heute geht es darum, inhaltlich Akzente zu setzen.