Wildpferde im Merfelder Bruch
Foto: Cornelia Höchstetter

Mit dem Fahrrad

Neues Leben
im Merfelder Bruch

Auf der Wiese liegt eine weiße, längliche Fruchtblase. Frisch sieht sie aus, die Nachgeburt im taunassen Gras. Ein sicheres Zeichen, dass hier vor wenigen Stunden ein Fohlen zur Welt kam. Forstoberinspektorin Friederike Rövekamp entdeckt die Hinterlassenschaft und zeigt sie den rund 30 Besuchern.

An diesem Tag findet im Merfelder Bruch eine von nur zwei jährlichen Sonnenaufgangsführungen mit der Försterin statt. Hier leben, so heißt es, Europas letzte echte Wildpferde – wenngleich eingezäunt auf etwa 400 Hektar. Weit über die Grenzen des Münsterlands bekannt ist der Wildpferdefang, der seit 1907 jeweils am letzten Samstag im Mai stattfindet. Ein Spektakel mit 10.000 Zuschauern in einer eigens gebauten Arena. Junge Männer in blauen Hemden fangen die halbstarken Jährlingshengste mit bloßen Händen ein. Eintrittskarten für den Wildpferdefang sind schwer zu bekommen. Kaum online im Angebot, sind sie in wenigen Minuten ausverkauft. Nicht viel einfacher ist es, eine Teilnahme an den beiden Sonnenaufgangsführungen zu ergattern. Ungebrochen ist das Interesse an den Wildpferden. Auch die Tagesführungen, die Dülmen Marketing anbietet, sind schnell ausgebucht. Gut, dass an den Wochenenden die Pferde auf eine Art Schauwiese umgetrieben werden und vom Zaun aus zu beobachten sind.

Fohlen im Merfelder Bruch Foto: Cornelia Höchstetter
Mehrere Tage oder wenige Wochen alte Fohlen sind neugierig und schon selbständig.
Fohlen und Mutter im Merfelder Bruch Foto: Cornelia Höchstetter
Trotzdem ist die Milchbar ein ständiges Ziel. Über das Euter nimmt das Fohlen den Geruch der Mutter auf.

TARNFARBEN VON WALD UND WILDPFERDEN

Im Gegensatz zum actionreichen Wildpferdefang ist die Führung mit der Försterin frühmorgens ein stilles Erlebnis: Der Mond steht noch hoch am Himmel, die aufgehende Sonne taucht den Horizont in ein kräftiges Orange-Rosé. Die fast 400 Pferde stehen im Waldstück um uns herum, verteilt auf viele kleine festgefügte Grüppchen. Die Vögel pfeifen ihr erstes Tageskonzert. Ab und zu wiehert ein Fohlen in höchster Tonlage nach der Mutter. Im Morgengrauen sind die Pferde schwer zu erkennen. Ihr Fell ist ähnlich dunkel wie die Baumstämme.

FRÜHLING IST FOHLENZEIT

Die Besuchergruppe steht um die Försterin. Während sie erzählt, kratzt wenige Meter weiter ein pummeliges Fohlen sein dichtes Fell an den Ästen. Ein anderes hüpft mit allen Vieren in die Luft, unentschlossen, ob es den Entwässerungsgraben überqueren soll. Aber die Mutter ist schon drüben, schreitet Richtung offene Wiese. Also hinterher. Je jünger die Fohlen, desto eher sieht man noch die Rippen und die knochigen Stelz-Beinchen. Diejenigen, die schon eine oder mehr Wochen auf der Welt sind, haben bereits einen enormen Fohlenpelz entwickelt und sich Babyspeck angetrunken. In den ersten Tagen gehen sie täglich 50- bis 60-mal ans Euter der Stute.

Wildpferde im Merfelder Bruch Foto: Cornelia Höchstetter
Wildpferde in der Kulturlandschaft: Am Entwässerungsgraben grasen die Pferde. Die jüngsten Fohlen imitieren, manche knabbern richtig. Die ersten Schneide- und Backenzähne sind teils in den ersten Tagen zu fühlen, brechen innerhalb der ersten beiden Lebenswochen durch.

„DIE HABEN DIE RUHE WEG“

Aus dem Wäldchen hört man empörtes Quietschen. Wahrscheinlich von einer Stute, um den Hengst noch etwas auf Abstand zu halten. Geschwind trabt eine Truppe Jährlinge vorbei, er- kennbar an ihrer jugendlichen Schlaksigkeit und an den kurzen Schweifen. Der Rest der Pferde interessiert sich nicht für die Menschen. „Ich staune selber immer wieder, wie ruhig und gelassen die Pferde sind, auch wenn wir hier durchlaufen“, kommentiert Friederike Rövekamp. Man kann in der Wildbahn herrlich das angeborene Sozialverhalten beobachten, wie Fohlen etwa schon Drohgebärden wie Auskeilen beherrschen. Oder wie sie Freundlichkeit signalisieren: mit gespitzten Ohren. Dank des Lebens in der Herde wissen sie, sich gut zu benehmen. „Deshalb sind sie sehr beliebt als Therapiepferde, Kinderponys oder Freizeitpferde“, erklärt die Försterin. Beim jährlichen Wildpferdefang werden etwa 30 bis 40 einjährige Hengste für zwischen 800 und über tausend Euro versteigert. Zu dem Zeitpunkt kennzeichnet ein Tierarzt die Tiere mit einem Chip im Hals, sie werden im westfälischen Pferdestammbuch als Dülmener registriert und bekommen einen Pferdepass. Die freilebenden Pferde der Wildbahn brauchen nichts davon.

Jedes Jahr kommen 70 bis 80 Fohlen zur Welt. Für den Nachwuchs sorgen zwei Hengste, die im Frühjahr etwa vier Wochen mit den Stuten, deren Fohlen und den Jährlingshengsten im Merfelder Bruch leben. Den Rest des Jahres verbringen sie auf einer extra Weide bei Herzog Rudolph von Croÿ. Seine Vorfahren haben die Wildpferdebahn begründet.

Friederike Rövekamp im Merfelder Bruch Foto: Cornelia Höchstetter
„Ich staune selber immer wieder, wie ruhig und gelassen die Pferde sind, auch wenn wir hier durchlaufen“, so Friederike Rövekamp.
Wildpferd im Merfelder Bruch Foto: Cornelia Höchstetter
Der Wald bietet Schutz bei Schlechtwetter. Wenn die Pferde zu viel Gras fressen, knabbern sie die Äste an, um die Verdauung zu regeln.

DER HERZOG BEWAHRT DEN GENPOOL

Die wilden Pferde von Dülmen sind ein Übrigbleibsel von einst zahlreichen regionalen Pferdepopulationen, die wohl schon vor über tausend Jahren wild lebten und von den Menschen bei Bedarf als Arbeits- oder Kutschpferd gefangen und gezähmt wurden. Ähnliches wie im Merfelder Bruch gab es unter anderem auf Wildgestüten im Duisburger Wald, im Arnsberger Wald oder in der Senne bei Bielefeld. Als sich der Mensch immer mehr Wiesen in Äcker umwandelte und Flächen bebaute, blieb immer weniger Platz für die Wildpferde. Auch nicht für die Dülmener, die erstmals 1316 urkundlich wurden. Sie zogen sich zurück in das feuchte Gebiet im Merfelder Bruch. Der wurde verschont vom Ackerland, weil dieses Fleckchen Erde kaum zu bewirtschaften war. Trotzdem wurde es eng für ein wildes Leben. So war es gut, dass Herzog Alfred von Croÿ im Jahr 1845 ein Reservat für die Pferde einrichtete und ihr Gebiet umzäunte. Im Laufe der Zeit wurde es immer mehr erweitert, bis es zur heutigen sogenannten Wildbahn wurde, die etwa 400 Hektar groß ist.

Kämpfende Wildpferde im Merfelder Bruch Foto: Cornelia Höchstetter
Mit einem Jahr haben die Jungpferde (links im Bild) schon 91 bis 93 Prozent der Endgröße erreicht, sehen aber schlaksig aus. Die Jährlingshengste üben sich im Kämpfen und agieren mit den Vorderbeinen.

Der heutige Herr über die Dülmener ist Herzog Rudolph von Croÿ. Sind es nun echte Wildpferde? Er erzählt uns aus der Redaktion am Telefon: „Das ist eine Definitionssache: Die Dülmener leben hier schon immer wild. Ihre Selektion hat ausschließlich die Natur übernommen.“ Doch in Europa sind ebenfalls die wilden Camarguepferde in Frankreich oder die New Forest Ponys in England bekannt? „Das sind alles ursprünglich domestizierte Pferde, für bestimmte Zwecke des Menschen nach ausgesuchten Eigenschaften weiter gezüchtet und später wieder ausgewildert“, erklärt Herzog von Croÿ.

Durch die gezielte Pferdezucht würde der Genpool immer schmaler und es gingen wertvolle Eigenschaften verloren. „Deshalb möchte ich das ursprüngliche Genmaterial der Dülmener erhalten – sonst gibt es bald keine Wildpferde mehr.“ Immerhin hat sich die Art des Pferde über Millionen von Jahren gerettet und dank des breiten Genpools immer wieder an veränderte Umwelt- und Klimaverhältnisse anpassen können. „Wir sind keine Pferdezüchter, wir erhalten eine Art. Und für diese Art soll weiterhin die Natur die Richtung vorgeben“, macht der Herzog nochmal deutlich. Deshalb gäbe es im Merfelder Bruch weder Tierarzt, Hufschmied oder Wurmkuren – undenkbar für unsere Hauspferde. Genau das mahnt der Herzog: „Wir nehmen heute nur noch unsere Hauspferde wahr und vergessen, dass sie auch mal Wildtiere waren, die ohne Decken und Huffett auskamen.“ Er möchte mit den Dülmenern das Bewusstsein wecken, ein „Schaufenster in die Vergangenheit“ schaffen, dass der Mensch das Pferd, sein Verhalten und seine Bedürfnisse besser versteht – auch wenn man Wild- und Hauspferde nicht immer direkt vergleichen kann.

Fohlen und Mutter im Merfelder Bruch Foto: Cornelia Höchstetter
Wenige Stunden alt ist der Nachwuchs. Nach der Geburt wiegen Fohlen etwa zehn Prozent des Körpergewichts der Mutter und haben etwa 62 Prozent ihrer endgültigen Größe.

NEUES LEBEN

Inzwischen ist die Besuchergruppe auf der offenen Wiese angekommen. Es ist schon hell geworden, wir können weit schauen und mehrere Pferdefamilien grasen nun auf der weiten Fläche. Noch so manche Stute sieht von vorne aus, als schleppe sie ein querliegendes Oval als Bauch. Dann kann es zur nächsten Fohlengeburt nicht mehr lange dauern. Im Durchschnitt tragen Pferde 340 Tage, was von Stute zu Stute zwischen 320 und 360 Tagen variieren kann. „Auch Pferde brauchen während des Fohlens Ruhe, Stress kann Wehen hemmend sein“, Friederike Rövekamp hat einmal bei einer Führung eine Stute beobachtet, bei der die Fruchtblase schon ausgetreten ist. „Die hat uns entdeckt und ist nochmal weggetrabt. Die Stuten wollen wirklich in Ruhe abfohlen“, sagt die Försterin. Studien haben ergeben, dass drei Viertel aller Fohlengeburten nachts gegen zwei und drei Uhr passieren. Vielleicht war das auch der Geburtszeitpunkt des Fohlens aus der gefundenen Fruchtblase: Als wir zurück zum Tor schlendern, ist es kurz vor acht Uhr. Keine 50 Meter von uns entfernt stakst ein etwas wackeliges Fohlen um seine Mama – Fohlen stehen innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt auf. Die Mähne scheint noch feuchte Strähnen zu haben. Geschätzt ist dieses Fohlen noch keinen halben Tag alt. Willkommen im Leben.

UNSER TOURENVORSCHLAG: Mit dem Drahtesel zu den Wildpferden und mit dem „Dampfross“ zurück

AUSGANGS- UND ZIELPUNKT
Münster, Bahnhof
Merfelder Bruch, Wildpferdebahn,
per Zug zurück nach Münster 

LÄNGE
knapp 42 Kilometer bis zur Wildbahn

REINE FAHRTZEIT
Laut der Navigations-App Komoot etwa drei Stunden

MARKIERTE WEGE 
Dortmund-Ems-Kanal Route bis Senden. Dann den Knotenpunkten der ADFC-Fahrradkarte Münsterland folgen: 65, 96 (Hiddingsel), 88, 40 und 12 (beide in Dülmen), Merfeld (70)

Foto: Heithoff & Companie

Vom Bahnhof Münster (1) Richtung Wolbecker Straße, über die Brücke und auf der Ostseite des Kanals (mit dem Schlenker durch die Loddenheide (2)) am Wasser entlang bis kurz vor Senden (3) . Nach dem Naturschutzgebiet Venner Moor (4) über die Brücke und weiter auf der anderen Kanalseite, an Senden (5) vorbei (Knotenpunkt 3), bis kurz vor der nächsten Brücke nach rechts der Knotenpunkt 65 ausgeschildert sein sollte. Von dort (6) aus geht es zum Punkt 96 in Hiddingsel (7) . Dort folgen die Radfahrer der mäßig befahrenen Straße nach Dülmen (8) vorbei an den Knotenpunkten 40, 13 und 12. Wer den direkten Weg nach Merfeld nicht auf der Straße fahren mag, kann den Umweg durch den Wildpark (9) , unter der Autobahn durch zum Knotenpunkt 94 und dann zum Punkt 63 nehmen. Dort ist man nahe der Wildpferdebahn 10, die dann ausgeschildert ist – ebenso kann man aber ab Dülmen auf der Straße den direkten Weg nach Merfeld und dann etwas kniffelig den Schildern der Wildpferdebahn folgen. Aktuell wird viel gebaut und Baustellen ändern den Wegverlauf. Auf dem Heimweg radeln wir bis zum Bahnhof Dülmen und steigen dort in das „Dampfross“ – heute sind es natürlich die Regionalbahnen RE 2 und 42, die regelmäßig zurück nach Münster fahren.

Wildpferde Watching

Die Termine für die Führungen mit der Försterin Friedrike Rövekamp kündigt das Marketing Dülmen auf seiner Homepage an, die Sonnenaufgangstouren für 2023 werden im Spätherbst veröffentlicht. Für diesen Sommer gibt es noch einige Plätze für eine Tour mit dem Oldtimerbus Ernie, die unter anderem zu den Wildpferden führt. Weitere Infos zu den Pferden und Führungen gibt es auf der Internetseite der Herzog von Croÿ‘schen Verwaltung. Von Mitte März bis zum ersten November ist die Wildpferdebahn samstags und sonntags sowie an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Erwachsene zahlen vier Euro. Besuchergruppen ab 10 Personen können sich bei der Försterin anmelden.

Alle Infos unter: duelmen-marketing.de und wildpferde.de

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