Der Zentralfriedhof Münster Der Zentralfriedhof Münster
Foto: Cornelia Höchstetter

Geschichte

Es lebe der Zentralfriedhof

Mit Gießkanne, Pflanzkelle und frischen Blumen unterwegs auf dem Friedhof. Die Hauptallee unter den Sommerlinden entlang, rein in das Labyrinth der rechteckigen Felder zum Grab der Lieben – das war lange Zeit der typische Friedhofbesucher.

FRIEDHÖFE ÄNDERN SICH 

„Man sieht heute immer weniger Besucher mit der Gießkanne in der Hand“, erzählt Dr. Ralf Hammecke. Er ist Diakon bei St. Lamberti, war lange Geschäftsführer der Zentralfriedhofskommission in Münster und ist nun alleiniger Geschäftsführer der Dialog-Medien und Emmaus Reisen GmbH. Er beobachtet eine große Veränderung auf den Friedhöfen. Viele Menschen trauern heute anders, wenn Angehörige oder Freunde sterben. Familien leben immer seltener an einem gemeinsamen Ort. Es gibt viele Single- und Zwei-Personen- Haushalte – so fragen sich viele: „Wer pflegt das Grab?“ In der traditionellen Bestattungskultur war ein großes Familien- oder Einzelgrab selbstverständlich. Heute liegt der Anteil der Urnenbestattungen auf dem Zentralfriedhof schon bei knapp 70 Prozent. 1980 waren es nur fünf Prozent. Viele haben zudem den letzten Wunsch, gar nicht mehr auf einem normalen Friedhof bestattet zu werden, sondern wählen für die letzte Ruhe einen Friedwald oder das Meer für die Seebestattung. Und damit ändern sich die klassischen Friedhöfe. Auf immer mehr freien Plätzen zwischen den Grabsteinen wächst Rasen statt Stiefmütterchen und Heidekraut um bronzene Windlichter.

Sommerlinden auf dem Zentralfriedhof Foto: Cornelia Höchstetter
Die mächtige Allee mit Sommerlinden bildet den Hauptweg hinein in den Zentralfriedhof.

REISE IN DIE VERGANGENHEIT 

Dr. Ralf Hammecke ist ein kluger Begleiter für einen Spaziergang über den Friedhof. Er studierte Theologie, Kunstgeschichte und Volkswirtschaft in Münster und in Rom. Als Diakon von St. Lamberti lernte er auf Beerdigungen verschiedenste Schicksale kennen und die verschiedensten Arten zu trauern. Umso mehr wertschätzt er die Bestattungskultur. „Die wird seit tausenden Jahren gepflegt“, erzählt er, „die Ägypter haben für die Verbindung zwischen Erde und Himmel für ihre verstorbenen Könige Pyramiden gebaut. Die Römer beerdigten die Ihren entlang der Konsularstraßen (Versorgungsstraßen für das römische Reich, Anm. d. Redaktion).“ Im achten Jahrhundert bauten die Christen ihre Kirche auf vorhandene Friedhöfe, und dann haben sich rund um die Kirchen die Orte entwickelt. Zur Zeit der Bistumsgründung in Münster wollten die gläubigen Menschen nah am Altar begraben werden, so entstanden um fast alle Altstadtkirchen neue Friedhöfe. „Das war das Lebensgefühl: Wo man geboren und getauft wurde, wollte man auch begraben sein. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung blieb schließlich ein Leben lang am Heimatort“, erklärt Dr. Hammecke. Das ist der Unterschied zur heutigen Zeit, in der die Menschen viel mobiler sind und ein Wohnortwechsel zunehmend selbstverständlich ist. 

Der Platz auf den Friedhöfen rund um die Altstadtkirchen der wachsenden Städte im 18./19. Jahrhundert wurde wieder schnell knapp, neue Friedhöfe entstanden außerhalb der Stadtmauern. In Münster im Jahr 1808 etwa der vor dem Neutor (der heutige Überwasser-Friedhof), der Friedhof vor dem Aegidiitor, auf dessen Gelände heute die Antoniuskirche steht und die Moltkestraße verläuft, und der Hörster Friedhof. Der beherbergt zwar noch die Grabmäler der Familie Hüffer und des ehemaligen Oberbürgermeisters Johann Hermann Hüffer, ist heute aber ein reiner Erholungspark. Wenige Jahrzehnte später war der Platz für die Verstorbenen wieder knapp. „Dazu herrschte der Kulturkampf zwischen Staat und Kirche. Münster stand unter preußischer Herrschaft, die Soldaten, die sich aus Preußen in Münster ansiedelten, waren überwiegend evangelisch – 20 Prozent der Münsteraner waren evangelisch, 80 Prozent katholisch“, sagt Dr. Hammecke. Das war die Voraussetzung, dass der „Centralfriedhof “ als einer der ersten „Simultanfriedhöfe“ Deutschlands geplant wurde, also ökumenisch für die Gläubigen der katholischen und der evangelischen Kirche. „Das ist seit der Gründung das Besondere am Zentralfriedhof “, sagt Dr. Hammecke.

Ralf Hammeke Foto: Cornelia Höchstetter
„Die Kinder sehen die Erwachsenen lachen, warum  sollen sie sie  nicht auch beim  Weinen sehen?“ - Ralf Hammeke

DER ZENTRALFRIEDHOF IM KURZPORTRÄT 

Am 2. Januar 1887 segnete die evangelische Gemeinde und am 30. März 1887 die katholische Gemeinde den Friedhof ein. Heute umschließt eine 1,2 Kilometer lange Mauer den Zentralfriedhof, mit altem und neuem Teil insgesamt 14 Hektar, 41 Denkmäler und 32.000 Grabstätten, ein großer Teil steht unter Natur- und Denkmalschutz. Er breitet sich parallel zum Aasee aus, zwischen Annette- Allee, Vesaliusweg, Universitätsklinikum und Instituten, Universitätsgebäuden, der Robert-Koch-Straße und der Himmelreichallee. Drei Portale führen hinein, eine mächtige Allee mit Sommerlinden bildet den Hauptweg. „Von etwa jährlich 2500 Bestattungen in Münster finden etwa ein knappes Drittel auf dem Zentralfriedhof statt, ebensoviel am Waldfriedhof Lauheide, und ein Drittel verteilt sich über die anderen Friedhöfe“, zählt Dr. Hammecke auf.

ORT DER TRAUER UND DER HOFFNUNG 

„Man sieht den Tod“, sagt Dr. Hammecke und vergleicht den Zentralfriedhof mit Parkfriedhöfen wie in Lauheide, wo der Tod für ihn weniger präsent wirkt. Die Wege auf dem Zentralfriedhof sind gleichmäßig eingeteilt und kreuzen sich. Dr. Hammecke findet es gut, dass man der christlichen Symbolik der Auferstehungsbotschaft begegnet. „Denn tatsächlich beobachte ich eine Mentalitätsveränderung. Manch‘ einer tut sich schwer, mit Tod und Vergänglichkeit umzugehen“, sagt der Theologe. Anders war es früher, im Jahr 1920 galt jede fünfte Beerdigung einem Kind. Jede Familie hatte alle 3,8 Jahre einen Todesfall im ersten und zweiten Verwandtschaftsgrad. „Heute ist dieser Zeitraum auf 16 Jahre angewachsen!“, sagt Dr. Hammecke. „Wer selten mit der Sterblichkeit Kontakt hat, kann schlechter damit im Alltag umgehen.“ Weil er weiß, dass der Tod und eine zunehmende Entfremdung des Glaubens Angst auslöst, konzipierte er das Begegnungszentrum gegenüber der Kapelle mit. „Trauer braucht einen Ort“, findet Hammecke. Am Friedhof steht es jedem frei, Tränen laufen zu lassen. Warum das manche Erwachsene etwa vor Kindern vermeiden wollen, versteht Hammecke nicht. Traurigkeit soll man nicht verstecken. „Die Kinder sehen die Erwachsenen lachen, warum sollen sie sie nicht auch beim Weinen sehen?“

Sitzplatz am Friedhof Foto: Cornelia Höchstetter
Rasten und ruhen. Der Zentralfriedhof ist ein Ort der Trauer und zum Traurig-Sein. Doch ein Friedhof ist auch ein Ort der Besinnung und der Begegnung.
Allee auf dem Zentralfriedhof Foto: Cornelia Höchstetter
Die alten Bäume säumen die Passagen durch die Eingangstore auf den Zentralfriedhof.

Der Zentralfriedhof als grünes Refugium

Der Zentralfriedhof ist ein guter Ort zum miteinander Reden, findet Stephan Orth von der Lambertikirche. Überhaupt kann der Friedhof viel mehr: Her erwartet uns Stadtgeschichte, Naturschutz und manch ein Besucher findet seine Familiengeschichte. 

„Auf den Zentralfriedhof kommen Besucher mit unterschiedlichsten Motiven“, beobachtet Stephan Orth, 28, pastoraler Mitarbeiter bei St. Lamberti. „Studenten, die die Lindenallee als Abkürzung zwischen Hüffer-Campus und Robert-Koch-Straße nutzen. Jogger queren das Gelände, Mitarbeiter der Uniklinik suchen Ruhe in ihrer Mittagspause. Trauernde, die sich immer wieder treffen und Freundschaften schließen. Und die vielen Besucher der Euthymia-Gedenkstätte.“ Stephan Orth weiß, dass dort Besucher zum Nachdenken kommen oder sich bedanken. 

Ein gutes Angebot: Rauszeit

Der Zentralfriedhof mitten in der Stadt ist ein Ort der Trauer, ein Ort zum Traurig-Sein. Doch ein Friedhof ist auch ein Ort der Begegnung. Um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, entwickelte das Pastoralteam der Pfarrei Sankt Lamberti gemeinsam die Idee eines Gesprächsangebots auf dem Friedhof und nannte es „Rauszeit“. Von Anfang September bis Ende Oktober standen Sitzbank und Hocker in der Gedenkstätte. Ein Plakat kündigte an, dass es jeden Donnerstag und Freitag von 14 bis 17 Uhr hier eine „Rauszeit“ gibt. „Ich habe mit den Besuchern gesprochen, es standen Getränke bereit, manchmal sind wir aufgestanden und gemeinsam über den Friedhof gegangen“. In den ersten vier Wochen zählte Orth etwa 30 Menschen, die den Kontakt suchten, um zu reden. „Es ging um Studienabbrüche, Nahtoderfahrungen, Verlust eines lieben Menschen, Jobwechsel – aber eben auch um unverhofft positive Erlebnisse. Gleichzeitig kommen auch viele junge Menschen, die erst einmal gar nicht sprechen wollen.“ Trotzdem scheint die Hemmschwelle geringer, in der offenen Gedenkstätte zu reden, als in einem Gebäude mit konkretem Anlass gezielt nach Ansprechpartnern zu suchen. Nach dem Experiment wollen die Zuständigen noch einmal überlegen, ob eine solche „Rauszeit“ nicht eine Dauereinrichtung am Zentralfriedhof werden könnte.

Das wäre eine neue Funktion für den Zentralfriedhof, der in den letzten Jahren immer mehr freie Plätze hat. Es ändert sich gerade gewaltig viel mit den Friedhöfen in Deutschland. Weniger Beerdigungen, weil immer mehr andere Bestattungsformen angenommen werden. Dafür werden Friedhöfe zum Naherholungsgebiet – etwas spitz formuliert. Allerdings wandelt sich tatsächlich mancher Friedhof zum Park. So extrem steht es in Münster mit dem Zentralfriedhof nicht. Stephan Orth sieht die Zukunft des Friedhofes gar nicht so schwarz: „Auch wenn jetzt viele Grabstellen leer stehen, ich glaube, so wie es Phasen gibt, in der die Menschen ihr Bedürfnis nach Freiheit und Individualität mit alternativen Bestattungsformen ausdrücken, so kommen auch Phasen, in der Sicherheit und Traditionen überwiegen“, sagt Orth. „Menschen brauchen Rituale für den Abschied.“ Und da spielt der Friedhof eine große Rolle.

„Der Friedhof ist eine Stadt in der Stadt“ Dr. Ralf Hammecke

Auf der Suche nach Familiengeschichten

„Das bemerke ich gerade an Feiertagen, dass Besucher von auswärts kommen um die Gräber ihrer Vorfahren zu suchen“, erzählt Dr. Ralf Hammecke. Er ist Diakon bei St. Lamberti, war lange Geschäftsführer der Friedhofskommission am Zentralfriedhof und ist nun Geschäftsführer der Emmaus Reisen und Dialog Medien. „Viele junge Menschen möchten wissen, wo ihre Familie herkommt“. Stephan Orth kennt auch viele Neu-Rentner, die die Zeit nutzen und sich in Familienforschungen stürzen. Manche Grabsteine verraten mehr als Namen und Lebenszeit. Gerade auf historischen Gräbern steht oft noch der Beruf des Verstorbenen. Für Dr. Ralf Hammecke das Beste an der Friedhofskultur: „Bei uns geht keiner namenlos“.

Zeugnis der Stadtgeschichte

Über den Zentralfriedhof zu gehen ist wie ein Blättern im Geschichtsbuch: Man findet die Namen stadtbekannter Persönlichkeiten: so etwa des Bildhauers Heinrich Fleige (1840–1890), des Brauers Pinkus Müller (1899–1979), des Zoogründers Hermann Landois (1835–1905), des NS-Opfers Paul Wulf (1921–1999), des Reichskanzlers Heinrich Brüning (1885–1970), des Politikers Jürgen Möllemann (1945–2003) und viele mehr. Von den prachtvollen alten Grabstellen sind nur noch wenige übrig – im Zweiten Weltkrieg wurde ein Großteil des Zentralfriedhofs zerstört. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurden die Grabsteine schlichter, die Inschriften spärlicher. Doch von der Art des Steins, blank poliert, naturnah rau oder gar aus Glas oder anderen Materialien, kann sich jeder Besucher frei sein Bild des Beerdigten und dessen Lebensgeschichte machen.

Die Euthymia-Gedenkstätte Foto: Cornelia Höchstetter
Schwester Euthymia, gelernte Krankenpflegerin, war zwölf Jahre im St.-Vinzenz-Hospital in Dinslaken tätig. Wegen ihrer Fürsorge um Kriegsgefangene und Fremdarbeiter während des Krieges wurde sie als Engel von St. Barbara bezeichnet. Am 7. Oktober 2001 wurde Schwester Maria Euthymia durch Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Über ihrem Grab auf dem Zentralfriedhof wurde eine offene Kapelle errichtet.
Grabstein und Dekoration Foto: Cornelia Höchstetter
Die Sonne fällt durch das Grün und leuchtet noch im November manche Blume an.

Ein Refugium für Flora und Fauna    

Frühmorgens, wenn die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken brechen, herrscht auf dem Zentralfriedhof eine ganz besondere Stimmung. Zu jeder Jahreszeit finden sich Spaziergänger ein, es ist ein Ort der Entspannung. Im Sommer treffen sich Naturwissenschaftler von der Universität und Gruppen des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) zu Vogelstimmenexkursionen. Dazu summt es ordentlich, zwei Bienenhäuser stehen seit 2017 auf dem Friedhof. „Jeder Kleingarten ist im Gegensatz zum Friedhof eine Giftbude“, stichelt Dr. Hammecke und meint damit, dass Pestizide auf dem Friedhof Tabu sind. Der alte Baumbestand gibt Eichhörnchen, Buntspechten und allerlei anderen Vögeln und Insekten ein ganzjähriges Zuhause. Kaninchen flitzen so viele herum, dass sie mehrmals im Jahr bejagt werden müssen. Die vielen Bäume – jeder Baum ist kartiert – und die blühende Vegetation wirken sich auf das Kleinklima aus. Nicht umsonst werden Friedhöfe in Städten als „grüne Lungen“ bezeichnet. Auf Infrarot-Wärmebildern von Städten sind Friedhöfe genau erkennbar, weil die Oberflächentemperatur deutlich kühler ist als über den bebauten Stadtteilen.

Eine Stadt in der Stadt

Auch deshalb ist eine Zukunft der Friedhöfe wichtig. „Der Friedhof ist eine Stadt in der Stadt“, erklärt Dr. Hammecke. „Pro Woche holen vier Sattelzüge Müll wie Steine und Bioabfall ab. Der Verbrauch des Trinkwassers liegt bei 8,5 Millionen Liter.“ Der Theologe bricht eine Lanze für die traditionelle Bestattung auf dem Zentralfriedhof: „Man muss sich bei den Alternativen klar machen: Bei einer Seebestattung haben die Hinterbliebenen keinen festen Ort zum Trauern. Der Baum im Friedwald, der für die Grabstätte steht, kann beim nächsten Sturm umkippen. Die Grabstellen sind dagegen für 30 Jahre sicher. Der Friedhof hat feste Wege, die auch für ältere Menschen mit Rollatoren befahrbar sind. Es sind Wasserstellen zum Gießen vorhanden.“ Für Hammecke gibt es viele gute Gründe, dass Friedhöfe wie der Zentralfriedhof eine Zukunft haben: „Friedhöfe sollen Orte der Begegnung sein, wie damals die Friedhöfe um Altstadtkirchen. Sie sollen in ihrer christlichen Symbolik zeigen, dass es mehr gibt als nur die sichtbare Welt.“

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