Draußen

Freie Fahrt!

Es geschieht ganz automatisch, reflexartig. Gerade so als könne der Mensch sich der Faszination einfach nicht entziehen. Fahrradfahrer bremsen, Fußgänger stoppen und Eltern erklären den Kindern, was sie dort auf der Fußgängerbrücke der Schleusenanlage in Münster sehen: höchste Bauingenieurskunst.

Die neue Zwillingsschleuse Münster ist seit 2014 in Betrieb und löste damit endgültig die drei alten Kammern ab, die zwischen 1899 und 1926 gebaut wurden und damit zum Teil mehr als 100 Jahre lang in Betrieb waren. Die Anlage ist schon allein in ihrer Größe von 190 Metern Länge und zwölfeinhalb Metern Breite voll auf Zukunft ausgerichtet. Denn bald werden die Frachtschiffe 185 Meter lang werden. Ohne entsprechende Schleusen könnten sie nicht mehr über den Dortmund- Ems-Kanal von Dortmund bis nach Emden gelangen.

Foto: Katrin Jäger
Hier sieht man vorne das Oberwasser, das vom Klemmtor „gehalten“ wird. Dieses wird beim Schleusen nach unten auf den Grund des Beckens geschoben. Das Becken ist mit seiner Länge von 190 Metern groß genug für die künftig immer größer werdenden Frachtschiffe.

DAS URALTE PRINZIP

Doch so modern der Bau auch ist, das Schleusen-Prinzip ist seit dem 2. Jahrhundert nach Christus, als zwischen Nil und Rotem Meer eine Doppelschleuse eingebaut wurde, dasselbe. Von der Fußgängerbrücke am Schifffahrter Damm aus kann man es hervorragend beobachten: Ein Frachtschiff kommt langsam herangefahren, manövriert in eine der beiden großen Schleusenkammern und legt an. Dann beginnt das große Schleusen. Das mächtige Stahltor schließt sich hinter dem Schiff und ganz langsam senkt oder steigt der Wasserpegel im Becken auf die Höhe des anderen Kanalabschnitts. Will der Kapitän Richtung Fernsehturm bzw. Dortmund schippern, ist er auf Bergfahrt, geht es in die entgegen gesetzte Richtung nach Emden befindet er sich auf Talfahrt. Der Höhenunterschied zwischen den beiden Abschnitten beträgt 6,20 Meter.

Kaum sichtbar steigt oder senkt sich also der Wasserspiegel in der Kammer, bevor sich am Ende des Schleusenvorgangs das andere Tor öffnet, um dem Schiff den Weg frei zur Weiterfahrt zu geben.

Erst danach kommt wieder Bewegung in die Besuchergruppen, die sich alltäglich auf der Brücke und an den Seitengeländern postieren, um dem Schauspiel zuzuschauen.

Foto: Katrin Jäger
Die Schichtleiter steuern von diesem „Glaskasten“ aus die Zwillingsschleuse.

ALLES MUSS REIBUNGSLOS LAUFEN

Doch es sind nicht nur die Schleusenbesucher, die sich für die beeindruckende Funktionalität des riesigen Bauwerks begeistern können, es sind auch die, die von Berufs wegen damit zu tun haben. Zum Beispiel Bauingenieur Matthias Fischer. Er ist der Außenbezirksleiter der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) und damit unter anderem dafür verantwortlich, dass die Schleusenanlage in Münster einwandfrei läuft. „Wir sind sowas wie das Autobahn- Bundesamt, nur eben für Wasserstraßen“, sagt er und sucht währenddessen in seinem Rechner nach den aktuellen Zahlen zum Verkehrsaufkommen an der Münsteraner Schleuse. Sein Büro ist nicht in dem Glaskasten, den die Schleusen-Touristen sehen, wenn sie ihre Radtour zur Schleuse machen. Es liegt in einem etwas versteckten Gebäude gut 150 Meter von den Schleusenkammern entfernt. An den Wänden hängen alte und neuere Fotos von verschiedenen Schleusen und Brücken. Es ist offensichtlich: Jeder, der hier arbeitet, ist begeistert von alter und neuer Technik und von den Bauwerken, die zwischen Münster und Senden von dieser Außenstelle betreut werden. Dazu gehören Brücken, das Pumpwerk an der Schleuse und auch die Kanalüberführung bei Gelmer. Doch auch Bauwerke unter Kanälen, die sogenannten Düker, fallen in den Verantwortungsbereich von Fischer und seinen Kollegen und Kolleginnen. Alle sechs Jahre müssen all diese Bauwerke nach und nach kontrolliert werden. „Das bedeutet jede Schweißnaht, jeder Nietkopf “, so Fischer. Das dauere zwischen 14 Tagen und drei Wochen. Im Außenbezirk Münster arbeiten deshalb Schlosser, Wasserbauer und Elektriker. Er selbst hat einen Tauchschein gemacht, um unter Wasser eingesetzt werden zu können.

Rollkeilverschluss aus Stahl Foto: Katrin Jäger
Der schwarze Rollkeilverschluss aus Stahl wiegt 12 Tonnen. Sollte es nötig sein, kann er einen defekten Schieber ersetzen.
Foto: Katrin Jäger
Beim Rundgang über das Schleusengelände erklärt Matthias Fischer, wie Bauingenieurskunst in der Anlage steckt. Was man von außen nicht sieht: Die Räume unter den beiden Kammern stecken voller Technik – und Lichtschalter

 

Für den täglichen Betrieb der Schleuse sorgen Schichtleiter, die in drei Schichten im Einsatz sind. In der Woche findet der Schleusenbetrieb rund um die Uhr statt, am Wochenende bleiben die Tore nachts geschlossen. Frank Dorstewitz ist einer der Schichtleiter. Er sitzt vor zehn Bildschirmen, die ihm aus verschiedenen Perspektiven Außenbilder der Schleusenanlage liefern und per Grafik anzeigen, welches Tor gerade wie weit geöffnet ist, wie hoch das Wasser noch steigen muss und welche Farbe die Ampel gerade hat. Jetzt greift er nach dem Fernglas und schaut durch die große Glasfront auf den holländischen Frachter, der auf seine Freigabe – grünes Ampellicht – wartet. Doch auch wenn Dorstewitz mit seinen eigenen Augen sehen würde, dass alles okay ist, würde das nicht reichen, um das Startsignal zu geben. Entscheidend ist das, was der Rechner ihm sagt. Denn die Überwachung obliegt ganz und gar der Technik. Erst wenn der Überwachungsbildschirm anzeigt, dass das Schleusentor wirklich komplett geöffnet bzw. geschlossen ist, wird die nächste Stufe von ihm per Mausklick freigeschaltet. „Trotzdem schau ich einfach noch zusätzlich“, sagt er.

FUNDGRUBE KANALA

uf die Frage, ob schon einmal etwas schiefgelaufen ist beim Schleusen, schüttelt er den Kopf. Doch dann kramen Dorstewitz und Fischer doch noch in alten Geschichten. Einmal, so erinnern sie sich, sei einem Frachtschiff unmittelbar vor oder während des Schleusenvorgangs die Schiffsschraube abgefallen. Das Schiff musste also aus der Kammer geschleppt werden und Taucher suchten nach dem vermissten Antriebsmittel. Vergebens. Erst als Jahre später die Kammer wegen der turnusmäßigen Überprüfung geleert wurde, fand man sie am Grund des Kanalbeckens. Apropos Funde im Kanalbecken: „Immer wieder liegen dort Tresore oder Autos“, erzählt Fischer. „Ein VW Bulli war auch mal dabei“, sagt Dorstewitz. All diese Dinge werden oft beim Schleusenvorgang ins Becken gespült, aber natürlich nicht sofort entdeckt. Manche taugen auch für den Beginn eines gruseligen Krimis, aber darauf wollen wir hier nicht weiter eingehen.

Zwillingprinzip Grafik Foto: WSV - Wasser- und Schifffahrtsverwaltung de Bundes
Bei einer Zwillingsschleuse werden beide Kammern abhängig voneinander betrieben. Die Einsparung beim Wasserverbraucht wird dadurch erzielt, dass die Kammern mit unterschiedlichen Wasserständen gefahren werden und das Wasser untereinander austauschen. Somit wird ein Teil des Wassers der zu entleerenden Kammer in die zu füllende Kammer abgegeben. Der Wasseraustausch zwischen den baugleichen Kammern findet über Längsläufe statt, die durch Kanäle verbunden sind. Die Restfüllung einer Kammer auf Oberwasserstand erfolgt anschließend direkt über das Einlaufbauwerk nach Öffnen der oberwasserseitigen Längslaufverschlüsse. Die Restentleerung der anderen Kammer auf Unterwasserstand erfolgt nach Öffnen der unterwasserseitigen Längskanalverschlüsse über das Auslaufbauwerk. Durch den Zwillingsbetrieb werden statt 16.000 m³ nur etwa 8.000 m³ Wasser aus dem Oberwasser entnommen bzw. ins Unterwasser abgegeben. Das heißt, dass der Kanal länger einen konstanten Wasserstand halten kann. Wenn dieser nicht mehr gewährleistet werden kann, sorgen die Hochleistungspumpen der Pumpwerke für den nötigen Wasserspiegel.

UNTERM KANAL

Ein kleines bisschen gruselig ist auch die Vorstellung, unter den Kanalbecken hindurchzugehen. Doch Matthias Fischer öffnet routiniert die Tür und geht forsch voran. Die Räume „unter Tage“ sind hell und hoch. Denn hier muss Platz sein für sehr viel Technik. Ohne die geht in einem modernen Schleusenbetrieb nichts mehr. Außer dem Licht, das ausgeschaltet wird, wenn man die Katakomben verlässt, laufen alle anderen Überwachungs- und Betriebs-Geräte weiter.

Mit deren Hilfe und dem Einsatz von Hydraulik wird auch der riesige Schieber via Mausklick bedient, der dafür sorgt, dass das Wasser von einer Zwillingskammer in die andere strömen kann. Er ist quasi unter der Bodenplatte eingebaut, nur eine große Hydrauliksäule zeigt an, dass er da ist. Bewegungslos steht ein baugleicher schwarzer Stahlkolloss, neben der Säule. Er kann im Fall der Fälle als Ersatzschieber dienen. Steht man neben dem schwarzen Stahlmonstrum, scheint man automatisch kleiner zu werden. In einer Ecke tut eine Hydraulikmaschine ihren Dienst. Fast kommt man sich vor wie in einem Technikmuseum oder überdimensionalen Physiklabor.

Durch Gänge und über Treppen geht es wieder hinaus auf die andere Seite des Kanals. Dort steht ein Container, in dem in Nicht-Coronazeiten Schleusenfans mehr über die Geschichte und die Technik erfahren können.

Matthias Fischer, Außenbezirksleiter des WSV Foto: Katrin Jäger
„Wir sind sowas wie das Autobahn-Bundesamt, nur eben für Wasserstraßen.“ Matthias Fischer, Außenbezirksleiter des WSV

4.000 LITER PRO SEKUNDE

Geht man von hier aus über die Fußgänger- bzw. Radfahrerbrücke wieder Richtung Schleuse, kann man am rechten Ufer das große Pumpenwerk sehen. Dort sind drei riesige Pumpen untergebracht, die 4.000 Liter Wasser pro Sekunde pumpen können. Das ist wichtig, erklärt Fischer, denn der Pegel des Kanals muss immer stabil sein. Ist dieser zu hoch, könnten Schiffe quasi an den Brücken, die sie unterfahren, hängen bleiben. Ist er zu niedrig, läuft ein Frachter auf Grund. Die Fernsteuerzentrale in Datteln greift dann regulierend ein und pumpt Wasser zu oder ab. Denn die wichtigste Aufgabe von all den Bauwerken, die am Dortmund-Ems-Kanal liegen, ist es, einen reibungslosen Schiffsverkehr zu garantieren.

Im Schnitt lassen sich in Münster 50 Berufsschiffe pro Tag schleusen, es können aber auch mal 90 sein. Im Jahr sind es etwa 12.000 Frachtschiffe, die ihre Waren über die Wasserstraße transportieren. Geladen haben diese meist Baustoffe, Getreide, Düngemittel, Hackschnitzel. Das Fassungsvermögen eines einzelnen Schiffes ist enorm: So entspricht die Transportmenge eines modernen Güterschiffes mit 110 Metern Länge laut WSV-Broschüre etwa der gesamten Menge, die 100 Lkw laden können. Die Vorteile liegen damit auf der Hand: Die Straßen werden entlastet, der CO2-Ausstoß wird verringert.

Foto: Katrin Jäger

40 MINUTEN FÜR DIE KANALSTUFE

Zurück zur Faszination Schleuse. Gerade fährt wieder ein Frachtschiff ein, es passiert die Brücke, von der aus die Passanten der Besatzung auf den Scheitel schauen können. Es will bergaufwärts, Richtung Dortmund. Um ein grünes Signal für die Einfahrt zu bekommen, musste der Schiffsführer Kontakt mit Schichtleiter Dorstewitz aufnehmen und sich anmelden. Jetzt, nach dem Rundgang mit Matthias Fischer, schaut man genauer hin. Ja, das Stemmtor ist offen, die Ampel ist grün, das Schiff kann einfahren. Ein Blick auf die Uhr ist überflüssig. Die Befüllung bzw. Entleerung der Kammer dauert zwischen sechs und neun Minuten. Die gesamte Schleusung samt Öffnen und Schließen des 52 Tonnen schweren Stemmtores und des 35 Tonnen schweren Klapptores auf der anderen Seite des Beckens, sowie des Einfahrens, Anlegens, Lösen und Ausfahren des Schiffes dauert etwa 40 Minuten. Eine gute Mittagspausenlänge. Man kann nicht sehen, dass das Wasser unterirdisch von einer Kammer in die nächste geleitet wird, doch Fischer hat es erklärt. Schade, dass kein Kind neben einem steht. Dem würde man jetzt auch erklären, dass man deshalb auch keine Verwirbelungen im Wasser sieht. Man würde auf die Ampel zeigen, die noch auf Rot steht. Und dann würde man zum Glaskasten hinaufschauen und wissen, dass Frank Dorstewitz oder einer seiner Kollegen vielleicht gerade nach dem Fernglas greift, hindurchschaut und wartet, dass das Klapptor sich komplett flach ins Wasser geschoben hat, sodass das Schiff gefahrlos darüberfahren kann. Wenn dann die Ampelfarbe auf Grün wechselt, würde man zu seinem Kind sagen: „Siehst du, jetzt hat der Kapitän freie Fahrt!“

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