Mit dem Fahrrad
zurück zur natur
Eigentlich eine verrückte Geschichte: Erst müht sich die Natur über Zehntausende von Jahren darum, der Ems ein Bett zu verschaffen. Das zog sich dann in vielen Schleifen durch die Landschaft. Dann kam der Mensch, entdeckte die fruchtbaren Auen für sich und trennte das, was eigentlich zusammengehört: Fluss und Flussauen. Der Mensch dachte sich sein eigenes Hochwasserkonzept aus und rückte mit Baggern an: Der Fluss sollte einen geraden Wasserlauf bekommen. Die Böschung sollte das Wasser innerhalb befestigter Ufer halten. Bis in die 1970er Jahre war das die gängige Praxis. In den 1980er Jahren spürte man die Folgen: Der Fluss grub sich aus lauter Verzweiflung immer tiefer ins Bett und schoss immer schneller dahin. Die ehemaligen Auen trockneten aus, die Bäume litten unter Durst, der Grundwasserspiegel sank, Trinkwasserprobleme waren die Folgen. Und wenn es zu Überschwemmungen kam, war es verheerend, weil das Wasser eine hohe Geschwindigkeit hatte und so viel mehr Zerstörungskraft. Der Mensch dachte nach – und er hatte eine neue Idee: Zurück zur Natur. Also rückte er wieder mit Baggern an und baute ein weiteres Mal ein neues Bett. Eins mit Bögen. So wie früher.

DER SANDIGE FLUSS IM MÜNSTERLAND
Die verrückte Geschichte betrifft fast alle Flüsse in Deutschland – und auf der ganzen Welt. Nach der Phase der Begradigungen kam die Phase der Renaturierung. So auch bei der Ems, die einen Teil ihrer Lebensreise durch das Münsterland vornimmt. „Ems-Auen-Schutzkonzept“ heißt das Projekt, um das sich Gabriele Weßling und Hermann Berling vom Dezernat Wasserwirtschaft der Bezirksregierung Münster seit über 20 Jahren kümmern. Europäische Projekte wie das Life-Nature-Project bei Einen, diverse EU-Fördergelder und die seit dem Jahr 2000 existierende EG-Wasserrahmenrichtlinie für einen ökologisch guten Zustand für alle Gewässer der Mitgliedstaaten begleiten ihre Arbeit.
Die wilde Ems im Portrait
Die Ems entspringt bei Schloss Holte-Stukenbrock und mündet bei Emden in die Nordsee. Dabei überwindet sie insgesamt auf den heute 371 Kilometern eine Höhe von etwa 129 Metern. Im Münsterland mäandriert der Fluss etwa zwischen Rheine und östlich von Warendorf. Die Ems gilt als kleinster Strom Deutschlands – ein Fluss ist dann ein Strom, wenn er ein Einzugsgebiet von mindestens 10.000 km2 hat und ins Meer mündet. Ems und Aue stehen im Münsterland weitgehend unter Naturschutz. Die deutschland- und vielleicht sogar europaweite Besonderheit ist, dass die Ems durchgehend auf einem Sandbett verläuft. Damit sind die Emsauen natürlicherweise vom Wechsel zwischen sehr nassen und extrem trockenen Standorten geprägt, was eine große Artenvielfalt möglich macht. Weil Wasserwege auch Wirtschaftswege sind, wurde die Ems schon im 18. Jahrhundert ausgebaut, wie viele andere Flüsse auch. Der „Große Emsausbau“ erfolgte ab den 1920er Jahren bis in die 1980er Jahre. Das Gewässer wurde so begradigt, dass sich die Lauflänge erheblich verkürzt hat. In den 1990er Jahren wandelte sich die Gesinnung und das Gewässerauenprogramm des Landes NRW, in das die Ems integriert wurde, wurde verabschiedet. In den letzten 20 Jahren konnte durch das Anschließen von Altarmen und neuen Mäandern die Ems wieder verlängert und neuer Lebensraum geschaffen werden.
LÄNGERER LAUF, MEHR LEBEN
Entlang der Strecke unseres Radtourentipps (siehe Seite 67) können wir die Ergebnisse der Arbeit an vielen Flussabschnitten bestaunen. Ziele der Renaturierung sind sind unter anderem die Durchgängigkeit des Flusslaufes für Fische und Wasserlebewesen. Auch soll der Fluss sich nicht noch mehr in die Tiefe (bei Greven sind es bis zu drei Meter!) eingraben. Im Gegenteil, die Ufer sollen geöffnet werden, um eine weitere Wasserfläche zu ermöglichen, Inseln und Ausbuchtungen sollen entstehen. Erreicht werden sollte das mit Laufverlängerung. Denn die Begradigung kostete viele Kilometer Flusslauf, die dazugehörigen Lebensräume in der Flussaue sind verschwunden. „War die Ems Anfang des 19. Jahrhunderts noch etwa 440 Kilometer lang, ist sie heute nur noch 371 Kilometer lang. 70 Kilometer Flusslauf sind also verloren“, sagt Hermann Berling. Es gilt, den ein oder anderen Kilometer wieder anzuflicken.

ZURÜCK ZU DEN AUEN
Das Konzept umfasste eine naturnahe Gewässer- und Auenentwicklung der Ems an verschiedenen Stellen, um dort die Eigendynamik des Flusses zuzulassen und die Artenvielfalt zu fördern. Damit wird Platz geschaffen für einen modern gedachten Hochwasserschutz – jetzt nach den Überschwemmungen im Sommer 2021 in der Eifel aktueller denn je: Das Wasser soll eben nicht schnell abfließen, sondern gemächlich wegziehen. Die Funktion der Auen ist zum Beispiel, ein Zuviel an Wasser zu speichern und nur langsam abzugeben. Die Bezirksregierung kaufte entlang der Ufer, wo es möglich war, das Land und baute um: Jahrzehnte vorher abgetrennte Altarme der Ems wurden wieder angeschlossen. Ehemalige natürliche Flutrinnen wieder genutzt. Bei Hembergen bei Emsdetten erreichte zum Beispiel die Renaturierung einen Kilometer mehr Emslauf. Bei Einen und Vadrup verlängerte sich der Fluss ebenfalls. Es entstanden neue Sandbänke, mal flache, mal steilere abgebrochene Ufer, kleine Buchten, die Rückzugsräume für die Flussbewohner sind.

GREVEN IST AN DER REIHE
Aktuell ist der Abschnitt Greven-Mitte an der Reihe. Das Gewässerbett soll ausgeweitet werden und eine Flutrinne entstehen. Im ehemaligen Uferbereich sollen einige Abschnitte als Inseln bestehen bleiben. Bereits fertig ist der Teil zwischen Grevens Freibad und dem Unternehmen Setex. Hier haben die Fische nun freie Bahn – die zwei bestehenden Wehre wurden beseitigt und 23 Abschnitte geschaffen. Die haben einen jeweils so geringen Höhenunterschied, dass die Fische wieder wandern können.
„ Die naturnahen Ganzjahresweiden mit Rindern und Pferden sind die Hotspots der Biodiversität in der Emslandschaft. Jedes Jahr entdecken wir neue Arten.“ Andreas Beutlin


WO WILDE PFERDE UND RINDER WEIDEN
Wo neue Auen entstehen, wachsen Weiden und die Natur explodiert förmlich. Weil die früheren Flussauen aber kein Dschungel waren, gibt es ein weiteres Projekt in den Emsauen des Münsterlandes. Konikpferde und Heckrinder fressen die Landschaft frei. Die Weidetiere leben in eingezäunten riesigen Flächen halbwild (siehe Info-Kasten Seite 66), und zwar in Vadrup, an der Lauheide und in Pöhlen. Andreas Beulting von der NABU-Naturschutzstation Münsterland zeigt uns vom MÜNSTER! Magazin das kleinstrukturierte Gelände der Emsauen am Beispiel von Pöhlen: „Die große Vielfalt an Gelände- und Biotopstrukturen, die auch von den Weidetieren mitgestaltet werden, schafft eine reiche Flora und Fauna. Auf den nährstoffarmen, trockenen Standorten wachsen artenreiche Sandmagerrasen, wo Heidenelke, Berg-Sandglöckchen und Natternkopf zuhause sind. An den Kleingewässern und Sumpfstellen leben seltene Libellen und Amphibien. Gebüsche und wenig aufgesuchte Bereiche bieten Rückzugsbereiche und Überwinterungsschutz“, erklärt Andreas Beulting. „In den trockenen Pflanzenstängeln etwa überwintern viele Schmetterlingspuppen.“ Weil die Pferde mit ihren Hufen kleine Sandflächen als Wälzkuhle frei scharren und Trampelpfade ins Gebiet spuren, entstehen offene Bodenstellen, die etwa Wildbienen und Sandwespen für die Anlage ihrer Erdnester benötigen Pflanzensamen verteilen sich im Fell der Tiere oder sogar einmal auf dem Weg durch den Darm und wieder hinaus über die ganze Fläche.

BEOBACHTUNGSPLÄTZE & INFO-POINTS
NABU-Experte Andreas Beulting zeigt mehrmals im Jahr auf den NABU-Führungen, wie sich die Fläche verändert. Er deutet auf die zahlreichen kleinen Löcher im Sandboden. „Vor den selbstgegrabenen Erdröhren sitzen im Mai die Feldgrillenmänchen und zirpen.“ Im Sand finden auch die Wildbienen ein Zuhause. An den vielen Wasser- und Sumpfstellen der wilden Weiden brüten etwa Kiebitz, Rohrammer, Reiher- und Krickente; auch zahlreiche Zugvögel schauen hier vorbei. „Da fliegt ein Grünspecht“, erkennt Andreas Beulting den Vogel an dessen wellenartigem Flug. „Trötttröttrött“, schreit es aus einer anderen Richtung. „Das ist der Schwarzspecht. Und wir haben hier eine große Population an Laubfröschen – sogar die Knoblauchkröte konnten wir erfolgreich hier ansiedeln“, zählt Beulting auf. All das können Radfahrer und Wanderer auf verschiedenen Aussichtspunkten beobachten. Die Beweidungsprojekte haben ihre Türme und Plätze. Aber auch die Renaturierungsflächen – zum Beispiel in Einen, am Ende unserer Radtour! Dort, wo die Ems sich wieder breit macht.


Wilde Weiden
Die NABU-Naturschutzstation Münsterland initiierte entlang der Emsauen drei extensive Ganzjahresbeweidungen mit Heckrindern und Konikpferden: In Pöhlen (27 Hektar), Lauheide (23 Hektar) und Vadrup (30 Hektar), alle bei Telgte. In Pöhlen und Vadrup gibt es Aussichtstürme, Beobachtungshügel und Picknickplätze am Rand der Gebiete. Solche Beweidungsprojekte gibt es seit Langem zahlreich in ganz Deutschland. Die Ergebnisse können sich meistens sehen lassen: Die fast wild lebenden Weidetiere fressen das Gebiet ab und halten Bäume und Sträucher in Schach. Mit den Hufen hinterlassen sie Spuren, die zum Lebensraum seltener Pflanzen und Insekten sowie Kleinsttiere werden – ein Mosaik unterschiedlichster Lebensräume. Der NABU veranstaltet mehrmals im Jahr Führungen über das Gelände. Einmal im Jahr wird die Heckrinderherde verkleinert und örtliche Gaststätten laden zu „Auerochsenwochen“ ein. Regionaler und tierfreundlicher kann ein Rinderbraten fast nicht sein. Im Winter bieten dieses Fleisch voraussichtlich die Restaurants Mittendrin in Telgte, Lohmann in Rinkerode und das Gasthaus Eickholt in Davensberg an.

Der EmsRadweg: Etappe Greven bis Müssingen
Wir stellen ein Teilstück des großen Emsradweges (insgesamt 382 Kilometer) vor und nutzen die Möglichkeit, zum Start und vom Ziel zurück in den Regionalzügen das Fahrrad mitzunehmen. Der EmsRadweg ist duchgängig in beide Richtungen ausgeschildert und online auf der angegebenen Website zu finden. Daher fällt unsere Wegbeschreibung diesmal knapper aus. Das Radwegelogo ist ein doppeltes gespiegeltes E mit blauer Welle in der Mitte. Unterwegs gibt es viele Stationen und Infotafeln, auch zum Thema Emsrenaturierung. Achtung: Wie fast alle Flussradwege führt die Route nicht ständig am Ufer entlang, sondern oft nur in der Nähe und quert den Fluss regelmäßig. Zum Start fahren wir mit dem Zug nach Greven. Dort folgen wir dem Radwegelogo und fahren aus der Stadt südlich der Ems (1) am Schöneflieth weiter. Hinter Gimbte überqueren wir zweimal die Ems (2 und 3) und landen in Gelmer. Durch Fuestrup geht es nach Vadrup (4, Abstecher zur Emsbrücke mit Blick auf das Beweidungsprojekt!) und in Bögen zu Haus Langen (5) – unterwegs ist am Anglerheim bei Vadrup (6) ein weiterer guter Infound Aussichtspunkt direkt am Emsufer. An den Emsauen und am Beweidungsprojekt Pöhlen (7) entlang geht es nach Telgte (8) : Beachte die neu sanierte Fischtreppe an der Emsbrücke im Ort. Von Telgte nach Einen verläuft der Radweg parallel zur Einer Straße, dafür an schmucken Münsterlandhöfen vorbei. In Einen geht es am Renaturierungs-Infopunkt (9) vorbei nach Müssingen, wo der Bahnhof ist. Wer noch Kraft in den Beinen hat, kann auch bis Warendorf radeln, auch von dort geht der Zug zurück nach Münster.
