Sport & Freizeit
unter strom
60 bis 70 Radläden hat die Fahrradstadt Münster heute. Anfang der 80er Jahre war es nur eine Handvoll alteingesessener Familienbetriebe von Hürter über Gierse bis Pues im Kreuzviertel. 1984 kamen fünf Studenten auf die Idee, ihr Hobby zum Beruf zu machen – und leiteten damit die Gründungswelle für Leezenläden eines neuen Typs ein. „Wir wollten die Dinge anders machen als die etablierten Geschäfte“, blickt Raimund Gerwing, einer der fünf Gründer, zurück.
Die Story startete im Hinterhof – in der Oderstraße am Dortmund-Ems-Kanal. Die alternativ-studentische Startup-Szene brachte zeitgleich weitere Unternehmen wie die Sportbörse oder Frosch Reisen hervor, die heute alle längst ihrerseits etablierte Ikonen ihrer Branche sind. Damals kennt und hilft man sich. „Wir haben uns damals in der Szene gegenseitig unterstützt – etwa mit Darlehn“, erinnert sich Gerwing. Selbst Kunden hielten die Gründer mit Mikro-Darlehn am Laufen. Mit Udo Rosenbaums Sportbörse teilte sich das junge Fahrradgeschäft sogar das Domizil. Eine praktische WG: Wenn Skier Saison haben, ist im Fahrradmarkt Flaute und umgekehrt.
Der Mountainbike-Boom beflügelte das Geschäft. „Der MTB-Boom hat den Fahrradmarkt umgekrempelt“, so Gerwing. Die junge Truppe gehörte zu den ersten, die den neuen Fahrradtyp zeigte und amerikanische Kultmarken wie Cannondale, Trek oder Specialized in die Stadt holte. Plötzlich stand ein Überseecontainer mit trendiges US-Bikes in der Oderstraße. Und eine Rechnung über 100.000 Mark flatterte ins Haus. „Einer von uns musste ein Sakko überstreifen und zum Banker an der Ecke, um das Geld zu besorgen. Denn wir hatten nichts auf dem Konto“, erinnert sich Mit-Gründer Gerwing. So etwas sei heute in Zeiten von Vorfinanzierung und Letter of Credits undenkbar. „Damals hatten wir andere Möglichkeiten“, schmunzelt Gerwing.
1988 zog man von der Hinterhoflage am Kanal in den „Iduna-Pavillon“ – aus Überzeugung. „Wir wollten ein Innenstadtladen sein – nicht nur beim Verkauf nah beim Kunden, sondern auch, wenn mal was ist“, betont Gerwing, der Drahtesel seit dem Ausstieg der Mitgründer 1989 allein führt. Das gilt bis heute. „Es gab mehrfach die Option, auf die grüne Wiese zu ziehen. Aber wir wollten kein Laden sein, bei dem man das Fahrrad in den Kofferraum packt und erst mal eine Viertelstunde rausfährt“, blickt der Gründer zurück. Schon sechs Monate nach dem Einzug kommt die erste Erweiterung. Das junge Unternehmen übernimmt die Räume des Pfandleihhauses Malsky. Im Laufe der Jahre kamen weitere Flächen dazu: Modellbahn Nolte, Fun Sport, Wilke Hörakustik, auch das Kinderkram-Ladenlokal im gegenüber liegenden Iduna-Hochhaus. „Wir sind froh, dass wir hier so wachsen konnten“, so Gerwing.
Das Flächenwachstum war auch dringend nötig. Denn der Fahrradmarkt boomte. Nach dem MTB-Trend folgten weitere. Rennradfahren wurde zum Volkssport, genau wie Radreisen, was Treckingräder populär machte. Single Speed-Räder und Urban Bikes sind bei jungen Menschen ein Statussymbol. Während die Menschen früher mit 18 Jahren und dem frischen Führerschein so schnell wie möglich ein eigenes Auto anschafften, lässt sich mit der motorisierten Rostlaube heute statusmäßig kaum noch punkten. Beim urbanen Menschen zählt das richtige Rad. Falträder und Lastenräder sind weitere neue Kategorien mit erheblichem Mehrwert für den urbanen Verkehrsteilnehmer. Seit einigen Jahren greift der Trend zum elektrisch verstärkten Zweirad. Die Leezenwelt ist komplexer geworden.
„Wir halten am Anspruch fest, Vollsortimenter zu sein“, betont Gerwing. Das Programm reicht vom Kinderlaufrad bis zum hochpreisigen Elektrobike mit allen Schikanen. Das Resultat: Trotz stetiger Flächenerweiterung ist es im Servatiipavillon kuschelig eng. Dazu gehört natürlich auch eine Werkstatt. Letztere erfordert angesichts hochgerüsteter E-Bikes hochqualifizierte Zweirad-Mechatroniker und entsprechendes Equipment. „Die Zeiten, in denen Studenten in der Werkstatt nebenbei schrauben konnten, sind längst vorbei“, betont Nikola Rosenbaum. „Wir diskutieren regelmäßig, ob wir weiter alle Sparten anbieten wollen. Aber wenn wir etwa Kinderräder als Nische aus dem Sortiment nehmen würden, gibt es in der Innenstadt kaum noch einen Anbieter. Deshalb bleiben wir komplett“, berichtet Gerwing. Die Zahlen geben Gerwing recht.
Der Treiber für den Elektroboom sei der Spaßfaktor. Immer mehr Menschen stehen dazu. Dass man E-Bike fährt, wird nicht mehr verschämt versteckt. Und es werden zunehmend starke Motoren verlangt. Viele Erstkäufer nehmen sich zwar vor, das neue Gerät nur mit der niedrigsten Unterstützungsstufe zu fahren. Doch diese Vorsätze schreiben die meisten E-Biker schnell in den Wind. „Es macht einfach tierisch Spaß“, so Rosenbaum. Das hat einen angenehmen Effekt. „Weil es Spaß macht, steigen die Leute häufiger aufs Rad und fahren weitere Strecken“, berichtet Gerwing und erzählt von Kunden, die sogar ihr Auto abgeschafft haben. „Wir hören Sätze wie: Das war die beste Entscheidung meines Lebens“, so der Drahtesel-Inhaber.
Die spaß- und komfortgetriebene E-Bike-Welle ist für Gerwing und Rosenbaum auch ein Exempel, wie Verkehrspolitik funktioniert. Beide wünschen sich bessere und smartere Angebote. „Mit Lenkung, Vorschriften und Verboten geht es nicht. Radfahren muss smart und angenehm sein“, fordert Gerwing. Historische Städte wie Münster bräuchten die Verkehrswende. Der Platz reicht einfach nicht für die steigende Anzahl der Verkehrsteilnehmer. Und weil ein Fahrrad – egal ob unterwegs oder geparkt – nun mal viel weniger Platz braucht als ein PKW, funktioniert urbaner Verkehr nur, wenn es mehr Leezen und weniger Autos gibt. Das Rad wählen die Menschen, wenn es die schnellere und komfortablere Alternative ist. Das sollte in der Fahrradstadt Münster eigentlich eine Binsenweisheit sein. Ist es aber nicht. Nach Einschätzung der Drahtesel-Crew hat sich Münster mindestens 20 Jahre lang auf den eigenen Lorbeeren ausgeruht. Dass man im Klimatest des ADFC die Spitzenreiterposition an Karlsruhe abgeben musste, sei eine konsequente Folge dieser Passivität.
Was der nächste Trend ist, der die Branche bewegt? „Räder, die man nicht mehr als E-Bike erkennen kann“, ist Gerwing sicher. Vor einigen Jahren kamen die ersten noch sehr hochpreisigen Räder auf den Markt, denen man Akku und Motor kaum ansah. Heute gibt es bereits ab 2.000 Euro E-Bikes, die sich optisch und in Gewicht kaum von normalen Rädern unterscheiden. Dabei tat sich die Fahrradstadt mit dem E-Bike-Boom anfangs schwer. „Münster war viele Jahre lang E-Bike-Diaspora“, zeigt der Drahtesel-Inhaber auf. Die Entfernungen in der Domstadt sind überschaubar. Als in den Städten und Dörfern des Münsterlandes längst fleißig E-Bike gefahren wurde, hielten die Münsteraner noch für überflüssig, mit Strom-Unterstützung unterwegs zu sein. E-Bikes waren mehr etwas für Senioren. Dafür kommt der Trend hier jetzt auch mit Macht – auch bei Mountainbikes und sogar bei Rennrädern. „Wir verkaufen heute schon mehr Mountainbikes mit als ohne E-Motor“, berichtet Gerwing.
In der Drahtesel-Gründungsphase war Münster noch Vorreiter in Sachen Radverkehr. Man führte die Fahrradstraßen ein, Jahre bevor dieser Typus überhaupt in die Straßenverkehrsordnung aufgenommen wurde. Diesen Mut vermisst Gerwing. „Wo sind die Visionen?“, fragt der Fahrradexperte. Außer ein paar Eimern roter Farbe passiere wenig. „Heute setzen sich die Bedenkenträger durch“, bedauert Rosenbaum. Ein paar grüne Rechtsabbiegerpfeile sind ebenfalls längst nicht hinreichend. „Es soll Radfahrer geben, die schon mal einen gesehen haben“, schmunzelt Gerwing. Dank E-Bikes steigt der Radius für Radpendler von wenigen Kilometern auf bis zu 25 Kilometer. Doch die tollsten der avisierten aber bisher kaum realisierten Velorouten ins Umland seien Stückwerk, wenn sich der radelnde Pendler auf seinem schnellen E-Bike in der Wolbecker Straße mit vielen anderen Radfahrern einen Radweg teilt, der deutlich schmaler als einen Meter ist. „Man muss nicht studiert haben, um zu erkennen, dass das nicht funktionieren kann“, so Gerwing. Münster solle sich ein Beispiel an Kopenhagen nehmen. „Dort gab es massive Bedenken, die Autos aus der Innenstadt zu verdrängen. Dennoch hat man das durchgezogen. Heute sind die Menschen glücklich damit“, so Rosenbaum.
Münsters Politik hatte vor einigen Jahren beschlossen, den städtischen Radverkehrsanteil von 40 auf 50 Prozent zu steigern. Dabei sind mehr radelnde Pendler aus dem Umland noch nicht einmal mitgezählt. Das sind also mindestens 25 Prozent mehr Radverkehr. Mit der aktuellen Infrastruktur ist das nach Ansicht von Gerwing und Rosenbaum nicht zu machen. „Keiner traut sich, offen darüber zu sprechen, dass das nur mit massiven Investitionen gehen wird. Und man muss dem Auto Flächen wegnehmen, damit Fahrräder und ÖPNV mehr Platz haben“, so Gerwing. Apropos Infrastruktur: Der Zustand der Servatiiplatzes erfüllt das Drahtesel-Team mit Sorge. „Hier ist seit über 30 Jahren nichts passiert“, so Gerwing. Schilder warnen Passanten vor Schäden auf dem Gehweg. So wohl sich Drahtesel im denkmalgeschützten Ensemble fühlt. Die Lage am Tor zur Innenstadt werde seit langem vernachlässigt. Dass es für den Rosenplatz einen dotierten Wettbewerb zur Neugestaltung gebe, weil dieser sehr sanierungsbedürftig sei, hat man im Servatiipavillon mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen. „Der Rosenplatz sieht im Vergleich zum Servatiiplatz aus wie gerade frisch renoviert“, so Gerwing. „Trotzdem fühlen wir uns an diesem Standort pudelwohl“, schränkt Gerwing ein. Die Nähe zur Promenade sei für Radfahrer ideal. Sogar der Europaradweg R1. „Wir freuen wir uns auf viele weitere Jahre – zumal auch die Nachfolge bereits geregelt ist“, blickt Gerwing in die Zukunft.