Menschen
Mann in der Erde
Am 12. November 2021 folgten Hunderte Menschen auf dem Zentralfriedhof dem Sarg, in dem Wilm Weppelmann zu seinem Grab getragen wurde. Nun liegt der Künstler im Schatten einer alten Eibe in der Erde. In die Erde wollte er, nicht zu Asche werden, zur Erde hat es ihn in den letzten gut zwanzig Jahren seiner 64 Jahre dauernden zwei Leben immer wieder gezogen. Es war sein 40. Geburtstag, als er einen Herzstillstand erlitt und im Angesicht des Todes sein erstes Leben beendete und ein zweites begann. Er sagte seinem Verlagsjob Adieu, wo er zu viel Kaffee getrunken, zu viel verdrängten Stress und zu viel Distanz zu den wirklich wichtigen Dingen im Leben gehabt hatte. Er begann Künstler zu sein, frei, ohne Absicherung, ganz auf sich und seine Ideen gestellt.
In jedem Einzelnen der Trauergemeinde dürften beim Gang zum Grab noch die bewegenden Improvisationen von Gudula Rosa nachgeklungen haben, die die Blockflötistin einer Paetzold Grossbassblockflöte entlockt hatte. In diese zu einem Unwetter, zu tobenden Wolkenbergen, zu brechenden Wellen sich aneinander reihenden Töne hatte Carsten Bender Weppelmanns bewegende Lyrik gesprochen. Wilm Weppelmann und sein immer im Sturm stehendes Leben wurde in diesen Momenten auf seltsame Art lebendig. Thomas Sternbergs Rede war schließlich die dritte Melodie, die in jedem Trauernden mitschwang auf dem Weg zu dieser alten Eibe. Gudula Rosa und Carsten Bender waren mehrfach in Wilm Weppelmanns Gartenakademie aufgetreten, musizierend und vorlesend. Thomas Sternberg hatte als Direktor des Franz-Hitze-Hauses Raum gegeben für Fotoausstellungen des Künstlers. Wilm hatte sich gewünscht, dass diese Drei die Trauerfeier bestreiten sollten. Nach der Beisetzung blies schließlich Jan Klare, der auch mehrfach in der Gartenakademie aufgetreten war, melancholische Saxophonimprovisationen in die Luft des sonnigen Vormittags.
Manch einem war es eine Ehre, manch eine kitzelte die Lust, an einem solch speziellen Ort aufzutreten.
Die Gartenakademie: Mit der 2006 in seinem Kleingarten am Wienburgpark ins Leben gerufenen Veranstaltung hat Wilm Weppelmann Geschichte geschrieben. Man könnte es als sein künstlerisches Hauptwerk bezeichnen. Niemand vor ihm war es in den Sinn gekommen, genreübergreifend hochkarätige Künstler, Autoren aller Couleur, bodenständige und exotische Gärtner, schwer verständliche Philosophen und locker dozierende Professoren in einen Kleingarten einzuladen, um sie dort über ihr Tun berichten oder ihr Tun vor Ort verrichten zu lassen. Viele von ihnen begnügten sich mit den Reisekosten, manche spendeten ihren Auftritt. Manch einem war es eine Ehre, manch eine kitzelte die Lust, an einem solch speziellen Ort aufzutreten. Aus Münster natürlich, aber auch aus Berlin, Stuttgart, Holland oder sonst woher kamen sie, aus Cornwall reisten Vertreter des Eden Projects an, aus London der berühmteste Guerilla-Gärtner der Welt, Richard Reynolds. Mit Reynolds ging er dann in der Dämmerung Blumen pflanzen, auf Baumscheiben vor dem Gefängnis an der Gartenstraße, wo sonst? Daraus erwuchs eine Freundschaft. Wenn Weppelmann nach London zur Chelsea Flower Show fuhr, traf er seinen jungen Freund und verteilte auf der Straße kleine Rotkohlpflanzen, die er aus Münster mitgenommen hatte. Der Rotkohl war sein ständiger Begleiter. Rotkohlsetzlinge zierten seinen Stand auf einem Kleingartenkongress, aus Rotkohlblättern ließ er sich einen Umhang nähen, darin auf ein Rotkohlfeld stellen und fotografieren. Damit hatte das nächste Gartenakademie-Plakat sein Motiv. Manches Plakat, manche Postkarte wird man nicht mehr vergessen: WW in Rotkohl gekleidet, WW zum Thema Holland mit Möhrensaft übergossen, WW kopfüber im Beet steckend, WW im Schottenrock Blumen gießend auf einem Aaseeboot. Die Jahresmotive zu seiner Gartenakademie waren Teil seiner Kunst. Die Motiv für 2022 war schon im Kasten.
Thomas Sternberg hatte aus einem Interview mit Weppelmann zitiert, in dem er beschrieb, woher er seine Themen nehme. Von „der Verzweiflung, dem Menschen, der Absurdität, der Krankheit, dem Unaussprechlichen, dem Lächerlichen, dem Wind.“ So schwermütig dies alles klingt, in seinem Kleingarten war dieser Schwermut nur sehr selten zu spüren, hier leuchtete hinter den Darbietungen immer Hoffnung und Freude, wie es kaum anders sein kann in einem Garten, in dem jeder Winter das Frühjahr vorbereitet. Im Garten konnte er sich entfalten und war gleichzeitig geerdet in Mutter Natur mit ihrem verlässlichen Kreislauf. In mehr als 250 Veranstaltungen brachte er viele Menschen zusammen. Er lockte sie in den Schrebergarten, an einen Ort, der so Manchem bis dahin unbekannt war, der sich so gar nicht als das vermeintliche Revier der Biedermänner entpuppte, in dem sogar schräge Blasmusik durch die Kürbisranken schallte oder der Konzertmeister des japanischen Tennō mit seinem Ensemble Töne erzeugte, die nicht Jeder als Musik identifizierte. Weppelmann wollte herausfordern, sich selbst und die, die zu ihm kamen. Auf ein anderes gärtnerisches Experiment ließ sich der Künstler 2013 ein. In jenem Sommer platzierte er eine 12 mal 2 Meter messende Holzinsel auf dem Aasee. Zu seiner aFARM 1 ruderte er täglich zum Gießen und Ernten. Da die Insel schon einmal gebaut war, ließ er ein Jahr darauf eine Hütte anfügen, mit Freunden die Insel erneut zu Wasser, um neben dem Gemüse schlafen, essen und schreiben zu können. Eine Komposttoilette stellte sicher, dass er die aFARM 2 den ganzen September nicht zu verlassen brauchte und von dem lebte, was er angepflanzt und bevorratet hatte. Vom Dach der Hütte rief er dreimal täglich Weisheiten zum Thema Was ich brauche ans Ufer. Für jemanden, dem Kommunikation mit anderen Menschen ein Lebenselixier war und der zudem unter Klaustrophobie litt, war dieser Monat der härteste seines Lebens, bis zu seiner Krebsdiagnose 2017.
Im Garten konnte er sich entfalten und war gleichzeitig geerdet.
Um das Thema Garten ging es auch bei den mehrfach durchgeführten Aktionen Völker aller Gärtner vereinigt Euch, bei der Wilm Weppelmann mit Freiwilligen an sozialen Einrichtungen gärtnerte. Es ging ihm meist darum, Menschen zusammenzubringen, und mit Gartenarbeit gelang das ausgezeichnet. Faulenzen dagegen war auf seinen Britnics angesagt. Seiner Liebe zu England, dem Mutterland des Gartens, folgend, bot er seit 2011 an einem Junitag im Jahr britisch angehauchte Kulturveranstaltungen an. Dazu tauchte er im Schottenrock auf, neben sich ein Dudelsackspieler, um sich herum Münsteraner auf ihren Decken, die sich mit künstlerischen Darbietungen und Spielen unterhalten ließen. Das Programm für das 2022er Britnic hatte Weppelmann schon fertig. Wieder kostenlos, so wie er seine Gartenakademie mit freiem Eintritt anbot und nur um Spenden bat. Es hatte schon seinen Grund, warum er sich jahrelang als Nachtportier und als Verkäufer auf dem Weihnachtsmarkt seine Groschen verdienen musste. In seiner künstlerischen Arbeit haben das Sterben und der Tod häufig eine Rolle gespielt. Vom unheilbaren Krebs wissend, musste er sich mit dem Lebensende vor einem tragischen Hintergrund beschäftigen. Und doch blieb er trotz Schwächung und Schmerzen bis zum Spätsommer 2021 aktiv. Im kalten März des Jahres hatte er seinen Ausstellungsbeitrag Arche ist klein am Kunsthaus Kloster Gravenhorst eröffnet, leicht bekleidet in einem Erdhügel steckend und gegen den eisigen Wind Bibelverse rezitierend (das MÜNSTER! Magazin berichtete im März 2021 mit dem Titel „Der Rhythmus des Lebens“). Mit einem Ziel vor Augen vergaß er sein körperliches Wohl- oder Missempfinden fast völlig. Die Arche und die in der Klostergräfte schief stehende Hütte werden irgendwann verschwunden sein, der ein oder andere wird sich daran erinnern, wie an seine temporären Auftritte in der Stadt und gelegentlich auch andernorts.
Mit einem Ziel vor Augen vergaß er sein körperliches Wohl- oder Missempfinden fast völlig.
Weiterleben wird der Künstler voraussichtlich im WIEGA-Garten am Rand des Wienburgparks. Vor ein paar Jahren hatte seine Suche nach einem Stück Land, auf dem er Kindern spielerisch die Stadtnatur und das Gärtnern vermitteln konnte, Erfolg. Geräteschuppen, ein Gewächshaus, Hochbeete, Unterstände gegen Regen – all das hat Wilm Weppelmann mit seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern beschafft und gebaut. Noch bevor das Projekt richtig Fahrt aufnehmen konnte, hat er den Kampf gegen den Krebs verloren. Freunde und Mitglieder seines Vereins Kulturgrün e.V. versuchen, den Garten weiterzuführen und neue Programme zu entwickeln. Vielleicht wird dort jetzt eine Eibe gepflanzt.