Menschen
Schwindendes Handwerk
erschienen im MÜNSTER! Magazin No. 100 (März 2021)
Kreuzviertel, 1932: Heinrich Surmund eröffnet eine Schuhmacherei in einem alten Waschhäuschen an der Studtstraße, er teilt sich die Räumlichkeiten mit einem Fahrradhändler. Als kurze Zeit später der Krieg beginnt, verlagert er seine Werkstatt kurzzeitig an den Stadtrand und fährt jeden Morgen mit dem Fahrrad ins Kreuzviertel, um Schuhe einzusammeln, die er reparieren soll. Nach Kriegsende möchte er seine Werkstatt neu eröffnen und dafür ein Haus bauen – wieder in der Studtstraße, wieder gemeinsam mit dem Fahrradhändler. Dieser jedoch springt ab und Surmund wagt den mutigen Schritt, den Hausbau alleine durchzuziehen. 1960 öffnet die neue Schuhmacherei Surmund ihre Pforten. Und hält sie bis heute geöffnet.
Bereits in der dritten Generation leitet heute Hendrik Surmund die Schuhmacherei. Dessen Vater hatte 1962 die Werkstatt von Hendriks Großvater übernommen. „Und dann bin ich auch irgendwie reingerutscht“, erzählt Hendrik Surmund. Weil er ahnte, dass es um das Kerngeschäft der Schuhmacherei eher ungewiss stand, absolvierte er seine Meisterprüfung als Orthopädie-Schuhmacher und erweiterte damit das Angebot der Werkstatt. 2002 übernahm er diese von seinem Vater, mit dem er noch 18 Jahre zusammenarbeitete, bis dieser im vergangenen Jahr verstarb.
IMMER WENIGER SCHUHMACHER WEGEN IMMER BILLIGERER SCHUHEN
Mit seiner Vorahnung lag Hendrik Surmund richtig: Die Schuhmacherei ist ein schwindendes Handwerk. „Hier in der Stadt haben wir an reinen Schuhmachern noch acht Kollegen“, so Surmund. Und damit ist Münster fast noch eine Hochburg, selbst in Großstädten wie Hamburg ist die Zahl der Schuhmacher nicht viel größer. Die sinkende Nachfrage erklärt sich Surmund vor allem durch die Preise. „Bei vielen Schuhen wundert man sich, dass sie bei den geringen Preisen tatsächlich aus Leder gefertigt sind. Aber dafür haben sie dann oft andere Schwachstellen, z. B. minderwertige Qualität beim Bodenmaterial.“ Die Kunden werden dann vor die Frage gestellt: Lasse ich den Schuh reparieren, um hinterher einen heilen, aber gebrauchten Schuh zu haben? Oder kaufe ich für 39 Euro einfach einen brandneuen? Scheinbar entscheiden sich immer mehr für letztere Option – obwohl das Thema Nachhaltigkeit in aller Munde ist. „Der Schuh sitzt eben ganz unten am Menschen, dem wird nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt“, so Surmund.
ALTEN „SCHÄTZKES“ WIEDER LEBEN EINHAUCHEN
Dass die Schuhmacherei Surmund sich trotzdem noch immer hält, dafür macht Hendrik auch ihre Lage verantwortlich. Im Kreuzviertel habe er ein solventes Publikum. Bei den Reparaturen, für die er beauftragt wird, handelt es sich meist um hochwertige Schuhe, die durchgelaufen sind – der ganz normale Verschleiß. „Es gibt auch echte Schätzkes, an denen das Herzblut der Kunden hängt!“ Kunden etwa, die einen Schuh bei ihrer Hochzeit getragen haben und bei denen sich jetzt die Silberhochzeit nähert. Dann ist es Surmunds Aufgabe, den Schuh 1:1 wieder in den Originalzustand zurückzuversetzen. „Wenn die Kunden ihn dann abholen und sich richtig freuen, ist das ein schönes Gefühl“. Einige hängen so sehr an ihren Schuhen, dass sie die Lieblinge immer wieder zu Surmund bringen. „Manche Exemplare kenne ich schon in- und auswendig. Ich habe ihnen schon einen neuen Rahmen, ein neues Innenleben und alles Mögliche verpasst – im Grunde genommen ist es ein neuer Schuh, nur noch das Oberleder von früher ist da“, erzählt der Schuhmacher lachend. Für die Kunden erhält Surmund damit nicht nur einen Nutzgegenstand am Leben, sondern auch eine Erinnerung.
Viele Kunden bringen ihre Schuhe wohl auch aus Tradition zu Surmund, sie sind mit dem Familienunternehmen mitgewachsen. „Einige kenne ich, seitdem ich als Kind in der Werkstatt herumgeturnt bin, bei vielen kannten wir schon die Eltern und sogar Großeltern“, berichtet der heute 49-Jährige. Wie der Kundenstamm hat sich auch die Werkstatt selbst kaum verändert. Im Grunde sehe es noch genauso aus, wie es 1960 eingerichtet wurde. „Als ich den Laden 2002 übernommen habe, habe ich überlegt, alles fein und schick und modern zu gestalten, aber die Kundschaft hat vehement widersprochen! Die wollten nicht, dass es aussieht wie eine Apotheke, es sollte die alte Schuhmacherei bleiben“, so der zweifache Familienvater. Also blieb die Werkstatt so, wie er sie noch aus seiner eigenen Kindheit kannte, nur etwas größer ist das Geschäft geworden. Für die Orthopädie gibt jetzt zwei Maßräume und ein Büro – Abdrücke der Füße werden inzwischen computergestützt durchgeführt.
UNGEWISSE ZUKUNFT FÜR DAS TRADITIONSHANDWERK
Obwohl die Orthopädie nicht das ursprüngliche Kerngeschäft des Familienunternehmens ist, nimmt sie inzwischen mehr als die Hälfte der Aufträge ein. „Ohne dieses zweite Standbein wäre es hart, das muss man ehrlich sagen“, so Surmund. Das Reparaturen-Geschäft ist deutlich zurückgegangen. Und wenn repariert werden soll, dann sind ist es meist kleine Arbeiten an Sohlen und Absätzen, Riester gegen Risse und Näharbeiten. Bei Letzteren geht dem Schuhmacher oft seine Mutter zur Hand, weil sie ziemlich zeitaufwendig sind. Surmund ist eben noch immer ein Familienunternehmen. Ob es auch in der vierten Generation übernommen wird, steht allerdings noch in den Sternen. „Meine Töchter sind 14 und zehn Jahre alt, die machen sich da noch keine Gedanken drüber“, so Surmund. „Mich würde es aber natürlich freuen!“ Das Schuhmacher-Handwerk lässt sich auch von Frauen ohne Probleme ausüben, da es keine Arbeit mit schweren Gewichten beinhaltet.
Wenn man Hendrik Surmund nach einer Zukunftsprognose des Schuhmacher-Handwerks fragt, bleibt er vorsichtig. „Ich glaube, es wird immer ein kleines Klientel bleiben. Dann ist die Frage, ob das ausreicht, dass davon mehrere Schuhmacher in einer Stadt leben können“. Der Großteil der Menschen, so vermutet Surmund, wird irgendwann vergessen, dass man Schuhe nicht wegschmeißen und neu kaufen muss, sondern auch reparieren lassen kann. Deswegen vermutet er, dass noch einige Schuhmacher ihre Pforten werden schließen müssen. „Optimistisch könnte man sagen: Es schrumpft sich gesund. Aber eigentlich ist es schade, wenn diese Tradition zu Ende geht“. Daher hat der Schuhmacher in der dritten Generation einen Appell an die Münsteraner: „Kauft euch vernünftige Schuhe! Wenn man sie ordentlich pflegt und behandelt und dafür ab und zu den Fachmann zur Hilfe nimmt, kann man lange, lange Spaß an ihnen haben“. Und das ist auf lange Sicht dann doch günstiger, als sich bei jedem Kratzer ein neues Paar zu kaufen.