Menschen
Der Formalist
erschienen im MÜNSTER! Magazin No. 101 (April 2021)
Mit beiden Händen packt Detlef Kunen die viereckige Gipsform. Randvoll ist sie, mit flüssigem, grauem Ton. Mit ruhiger Bewegung, ohne zu verschwappen, gießt der Künstler den flüssigen Ton vorsichtig in einen meterhohen Eimer. In der Gipsform, die Kunen hält, ist das Ergebnis zu erkennen: Ein Fisch, der aussieht wie ein überdimensionales Sandkastenförmchen. Die Assoziation ist nicht ganz falsch: Hier entsteht nämlich eine Backform aus Steinzeug.
Für seine ungewöhnlichen Backformen ist Detlef Kunen seit neun Jahren bekannt. Sie sind zum einen Dekoration zum Aufhängen an Wänden, zum anderen eine Form für phantasievolle Kuchen, Puddings, Gelees, Hackbraten oder Götterspeisen. „Formen ohne Normen“, nennt der Dülmener das gerne. An Wortspielereien hat er mindestens so viel Spaß wie an Förmlichkeiten für Haushalt und Galerie. Formschön muss es sein. Da ist er sich mit seiner Frau Barbara einig, die selbst Innenarchitektin ist und Hotels gestaltet. Beide wohnen in Dülmen, wo es über den Hinterhof zum Werkstatt-Atelier und zur Galerie geht, die Detlef Kunen seit 1988 betreibt.


RUHRPOTT, SCHWEDEN, AFRIKA
Der 62-jährige Designer ist in Recklinghausen geboren, den Ruhrpott-Slang und den Schalk im Nacken hört man noch raus. Seine Heimat ist ihm wichtig, zumal sich Kunen täglich vormittags um seine Mutter in Recklinghausen kümmert. Er ist ihr dankbar: „Meine Mutter und mein Vater haben mich geprägt. Sie waren künstlerisch interessiert.“ So kam der Sohn zu seinem Beruf. Erst dachte er daran, Goldschmied zu werden, dann war doch das Abitur das Ziel. Inspiriert von der elterlichen Keramiksammlung aus den 1970er Jahren legte er danach in der Eifel nahe der Mosel eine dreijährige Töpferlehre ab. Dabei blieb es nicht, Kunen sattelte ein Studium der Freien Kunst an der Fachhochschule Kiel obendrauf – natürlich schrieb er sich für die Keramikklasse ein. „Während des Studiums lernte ich einen Kollegen aus Büsum kennen. Der plante, als frischgebackener Geselle mit dem Fahrrad nach Paris zu radeln und sich dort eine Stelle zu suchen. Das hat mir unglaublich imponiert“, erinnert er sich. Er suchte nach ähnlichem Abenteuer und konnte Kontakte nach Schweden knüpfen. „Dort suchten sie Leute, die für die Touristen an der Töpferscheibe drehen“, schmunzelt Kunen.
So verbrachte er fünf Sommer lang in Schweden. Gut etabliert im Team erhielt er über das Unternehmen ein Angebot, in Tansania zu arbeiten. Das passiert nicht vielen studierten Künstlern, dass sie nahtlos ans Examen in Lohn und Brot kommen. Eineinhalb Jahre arbeitete Kunen in Afrika und kümmerte sich um die Produktentwicklung einer Manufaktur für Gebrauchsgeschirr. „Ich kann nur alle Eltern ermutigen, ihre Kinder ins Ausland zu schicken. Das erweitert den Horizont und ist ganz gut mal zu sehen, wie andere Menschen in anderen Kulturen leben und anders denken.“


WERKSTATT UND WERKSCHAU
Kunens Ziel war jedoch immer eine eigene Werkstatt. Die hat er in Dülmen gefunden. Über den Hinterhof geht es erst vorbei am Schaufenster der Galerie, dann führt die Tür in die Werkstatt. Ein langer Tisch in der Mitte des Raumes ist zum einen Arbeitsplatz von Detlef Kunen – aber einmal in der Woche kamen vor der Pandemie auch regelmäßig sechs Hobbykünstler, die hier Kunens Werkzeug und Sachverstand nutzen durften. Wie ein Workshop auf freier Basis. Wie die Backformen, Tassen, seine Drucke (selbstentwickelte Molliographie – Papier auf weichem Ton gedruckt) und Skulpturen fertig aussehen, können die Besucher einen Raum weiter bewundern: In der Galerie ist die Werkschau auf Regalen präsentiert.
EINE KUCHENFORM ENTSTEHT
Bevor Kunen ungewöhnliche Kuchenformen gießen kann, ist es ein langer Weg. Denn schon das Gipsmodell ist selbst hergestellt und dient dann als Arbeitsform. „In diese Arbeitsform gieße ich den Fließton und lasse sie etwa eineinhalb Stunden stehen. In der Zeit zieht der Gips wie ein Schwamm die Feuchtigkeit aus dem flüssigen Ton. Die so trockenere Tonschicht, die direkt am Gips anliegt, nennt man Wandung“. Je länger das Konstrukt steht, desto dicker wird die Wand.
Kippt Detlef Kunen dann den übrigen Flüssigton ab, bleibt die künftige Backform am Gips kleben. Nach einer weiteren Trockenzeit kann er sie durch Umkippen lösen und die Form hat eine ledrige Konsistenz. Einen Tag lang trocknet die Form, dann wird sie ein erstes Mal gebrannt. Dann wird glasiert, nochmals gebrannt. Fertig ist die Steinzeug Backform.


BACKE BACKE KUCHEN
Dass Detlef Kunen auf Backformen kam, war eine logische Folge: „Ich backe und koche gerne. Jedes Jahr zu Weihnachten lade ich zu einem mehrgängigen Essen ein“, sagt Kunen. „In fünf Gängen um die Welt“ war im Jahr 2008 das Thema des Menüs und die Geburtsstunde der Backform. Die Nachspeise galt Australien: Auf dem Tisch stand dann rote Götterspeise in Gugelhupf Form mit ausgehöhlter Mitte – da brannte ein Teelicht. Mit Vanillesoße und glasierten Cashewkernen – der Titel war: „Milchzähne vom zweijährigen Känguru in Merino Schafsmilch an Ayers Rock (beleuchtet)“.
Kurze Zeit später besuchte Kunen eine Ausstellung in Bielefeld mit historischen Backformen. „Eine Form erinnerte mich an das Opernhauses in Sydney“, erzählt Kunen, „die aussah wie aufgefächerte Apfelsinenstücke.“ Der Geistesblitz: Solche eckigen und runden Formen müsse man mit flüssigem Ton in Gipsformen herstellen. Heute bietet Kunen ständig 20 aktuelle Backformen an, die man online bestellen oder in der Galerie kaufen kann. Seine Backformen sind grundsätzlich gelb, das machte er zu seinem Markenzeichen. Ausnahmen sind die Zugeständnisse ans Münsterland: Einen Pferdekopf und einen Fahrradsattel gibt es als schwarze Backformen.
Kunen glaubt fest daran, „dass man selber backen und kochen muss, wenn man sich solche Formen ausdenkt“. Weil es praktisch sein muss. Bei aller freien Kunst – Kunens Sinn fürs Praktische zieht sich durch sein Leben.


BUCH ALS SAHNEHÄUBCHEN
Der Künstlerkopf ist ständig in Arbeit. Sein aktuelles Projekt ist ein Buch, das er dank eines Stipendiums realisieren kann. Das Thema: Fotos mit Paaren. Die Idee kam ihm zum elften (11! – ein Zahlenpaar) Hochzeitstag. „Nur zeige ich alles außer Liebespaare!“ Das sind Baumpaare, Gebäudeteile oder andere Parallelitäten aus Natur und Architektur. Damit sind in seinem Werk Fotos und schräge Texte an der Reihe. Diesmal in Buchform.
KONKRETES UND FRAKTALES
Kuchenformen und Tassen mit Sprüchen sind nur eine Seite von Kunens Töpferkunst. Er gestaltet auch Skulpturen. Auf Quadern sammelt Kunen Wortpaare. Die reihen sich auf dem obersten Holzregal auf. „Die sollen den Betrachter provozieren und zum Nachdenken anregen“, erklärt er. „Die Zeit wartet“ steht neben „Versäumte Zeit“. In der Werkstatt und in der Galerie stehen hohe Figuren, wie verdrehte Schlangen. „Ich baue Quader, zerschneide sie und setze die Formen neu zusammen. Mit dem Winkelschneider gehe ich auf 45 Grad.“ Diesmal ist es kein feines Steinzeug, sondern grob schamottierter Ton, die einzelnen Körnchen sichtbar bis fünf Millimeter grob.
„Konkrete Kunst“, nennt das Detlef Kunen. Konkrete oder konstruktive Kunst ist eine streng gegenstandslose Stilrichtung der Modernen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam. Detlef Kunen erklärt: „Konkrete Form ist ausschließlich eine Form. Dagegen ist Abstrakte Kunst Form und Inhalt.“
Was ihn weiter fasziniert, sind fraktale Strukturen. „Die kommen in der Natur auch vor, etwa beim Romanesco Blumenkohl. Da findet sich das Muster in jeweils der nächsten Stufe wieder. Das Teil findet sich im Ganzen wieder und umgekehrt."
