Menschen
Film ab
erschienen im MÜNSTER! Magazin No. 106 (Oktober 2021)
Es war einmal ein kleiner Junge aus Hiltrup, der die Aldi-Videokamera seines Stiefvaters entdeckte und von da an alles filmte, was ihm unter die Linse kam. Ob im Urlaub oder Alltag, die Kamera durfte nicht fehlen. Dieser Hiltruper Junge ist heute 30 Jahre alt und stolzer Besitzer eines Emmy-Awards – dem bedeutendstem amerikanischen Fernsehpreis. Marvin Nuecklaus lebt nicht mehr in Hiltrup, sondern in Los Angeles und hat das erreicht, was so viele wollen und so wenige schaffen: Er hat sich in der internationalen Filmbranche einen Namen gemacht.
Hätte man Marvin Nuecklaus vor 15 Jahren erzählt, dass er eines Tages auf den roten Teppichen der größten Preisverleihungen der Welt stehen würde – er hätte es wohl nicht geglaubt. Obwohl sich schon damals als Jugendlicher sein Interesse an Fotografie und Film entwickelte. „In der Schule lagen mir die kreativen Fächer am besten. Lange Zeit war mein Traumberuf Architekt“, erinnert sich Marvin zurück an seine Schulzeit in Hiltrup. Doch die Faszination für Fotografie und Film überwog, und so entschied Marvin sich für eine Mediengestalterausbildung am Adolph-Kolping-Berufskolleg in Münster. Durch ein Praktikum bei der Comedy-Sendung Switch Reloaded (ProSieben) wurde ihm klar, dass mehr noch als das Fotografieren das Filmen seine große Leidenschaft ist.
„Wenn du einen Film drehst, nimmt der dich komplett ein – manchmal für ein, zwei oder drei Jahre. Das ist wie ein Lebensabschnitt.“ MARVIN NEUCKLAUS

Reiseführer statt Comics als Kind
Doch wie kommt man vom beschaulichen Hiltrup ins Film-Mekka Los Angeles? „Aus unerfindlichen Gründen wollte ich schon als 10-Jähriger in die USA ziehen, das war immer mein größter Traum. Meine Eltern konnten es sich auch nicht erklären, warum ich mir als Kind statt Comics lieber Reiseführer von San Francisco kaufte“, erzählt Marvin lachend. Diese Affinität zu Amerika passte natürlich bestens zu den Plänen, in der Filmbranche Fuß zu fassen. Nach der Ausbildung begann Marvin zwar zunächst ein Film-Studium an der FH Dortmund, doch das eine Auslandssemester, das dort möglich gewesen wäre, reichte ihm nicht. „Also habe ich noch eine dreimonatige Sprachreise nach San Francisco gemacht, um mein Englisch aufzupolieren – und dann auf Biegen und Brechen versucht, in den USA einen Uni-Platz zu bekommen.“ Mit Erfolg. Nachdem Marvin zunächst in Santa Barbara begann, Film zu studieren, wechselte er schließlich an die University of California in Los Angeles und begann dort mit einem Regie-Studium.

Keine Zeit für Zweifel
Ein Studienort, knapp 10.000 Kilometer von der Heimat entfernt – das muss man sich erst einmal trauen. „Natürlich hatte ich manchmal Heimweh, habe Familie und Freunde vermisst. Aber Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, hatte ich nie.“ Dafür war vermutlich auch gar keine Zeit. Das Regie-Studium an der University of California ist sehr praktisch ausgelegt, die Studierenden entwickeln viele eigene Projekte und setzen diese um. Im Endeffekt gehe es weniger um das Studium selbst, so Marvin, sondern darum, wie viel Eigenengagement man zeigt und was man nebenbei macht. „Und ich hab alles gemacht! Gerade als Ausländer hast du keine andere Wahl: Entweder du startest voll durch – oder du gehst zurück.“ Da eine Rückkehr für Marvin nicht infrage kam, knüpfte er so viele Kontakte wie möglich, arbeitete als Produktionsassistent, brachte sich vieles selber bei und schaute sich an, wie es in den verschiedenen Bereichen eines Filmsets abläuft. „Die wichtigste Qualität eines Regisseurs ist es nämlich, mit den verschiedenen Abteilungen am Set effektiv kommunizieren zu können. Und dafür muss man wissen, wie alle arbeiten.“


Dass er diese Qualität besitzt, stellte Marvin unter Beweis, indem er nach seinem Abschluss 2017 auch in der „richtigen“ Berufswelt Fuß fasste und sich damit die weitere Aufenthaltserlaubnis in Amerika sicherte. „Statt Assistentenjobs wie während des Studiums zu machen, arbeite ich inzwischen als Regisseur, Produzent, Cutter und Kameramann in prestigeträchtigen Projekten und größeren Produktionen.“ So auch bei der Fernsehsendung Staycation, bei der der Hiltruper Regie führte. Als diese im vergangenen Juni plötzlich für einen Emmy-Award nominiert wurde, war das natürlich ein großes Kompliment an seine Arbeit. „Allein über die Nominierung habe ich mich total gefreut, das Gewinnen war mir da gar nicht mehr so wichtig“, berichtet Marvin. Als er dann bei der Preisverleihung – aufgrund der Pandemie nur virtuell und nicht wie normalerweise als Riesenshow in Las Vegas – zum Gewinner gekürt wurde, war der Jubel natürlich trotzdem groß. „Ich konnte es am Anfang gar nicht glauben!“, so der junge Filmemacher.

„Die härteste Branche der Welt“
Aber auch unabhängig von den Preisen und Auszeichnungen, von denen Marvin inzwischen auf eine ganze Reihe blicken kann, brennt sein Herz für das Filmemachen. Das Schönste an seiner Arbeit sei, dass kein Tag wie der andere aussehe. „Es gibt keine Routine, du erlebst immer wieder etwas Neues. Wenn du Werbung machst, arbeitest du mit Kunden zusammen, lernst die Produkte kennen und entwickelst kreative Konzepte. Wenn du einen Film drehst, nimmt der dich komplett ein, manchmal für zwei, drei, vier Jahre. Das ist wie ein Lebensabschnitt.“ Die Zusammenarbeit mit anderen Kreativen – Kamera, Makeup, Setdressing, Schauspieler, und, und, und … – sorge außerdem für viel Abwechslung und ständig wechselnde Kommunikationspartner. Für Menschen, die Struktur in ihrem Arbeitsalltag brauchen, wäre der Job nichts, so Marvin. „Aber ich brauche zum Glück keine Struktur. Ich gehe im kreativen Freidenken auf.“
Natürlich hat das Filmbusiness, das Marvin als die härteste Branche der Welt bezeichnet, auch Schattenseiten: Es herrscht unglaublich hohe Konkurrenz. Die meisten Regisseure arbeiten freiberuflich und haben keinerlei finanzielle und planerische Sicherheit. „Wenn du nicht gerade Spielberg mit Nachnamen heißt, weißt du nie, wann dein nächstes Projekt kommt“, so Marvin. Außerdem: „Richtig harte Stunden, unglaublich lange Arbeitszeiten. Wenn man einen Film dreht, ist Schlaf Mangelware!“ Auch kann es passieren, dass man für einen Dreh ein Jahr oder länger am anderen Ende der Welt arbeiten und ständig durch die Gegend fliegen muss. Doch Marvin scheint sich von diesen besonderen Berufsbedingungen nicht abschrecken zu lassen. Der Emmy-Preis war wohl der beste Beweis dafür, dass es sich lohnt!
